Kloubert: Kernbeißer und Kreuzschnäbel
Rainer Kloubert:
»Kernbeißer und Kreuzschnäbel«
Ein Sittengemälde aus dem alten Peking
2021, grundlegend erweiterte, illustrierte und mit einem Index versehene Ausgabe, geb., mit rotem Faden geheftet, bedrucktes Vorsatz, Lesebändchen, 304 S.
€ 39 [D] / € 40 [A] / sFr 41
ISBN 978-3-96160-035-9
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Buch

Die Bewohner des alten Peking – vom Kaiser bis hin zum einfachsten Untertanen – waren darin vernarrt, den Lauten von Vögeln zu lauschen, neue für sie zu erfinden, natürliche zu verändern, sie ganze Strophen trällern zu lassen oder ihnen kuriose Manieren beizubringen, um sie anderen vorführen zu können. Die Utensilien: Käfige, Käfiggriffe, Sitzstangen, Fress- und Trinknäpfe, Gestelle, Rahmen, Halsfesseln, Kästchen, Schächtelchen und vieles mehr, von dem Rainer Klouberts grundlegend erweitertes und reich illustriertes Buch berichtet, sind leider für immer verschwunden – die konfuzianischen Tugendwächter hatten nur wenig für Vögel übrig. Die Mode, sie zum Vergnügen abzurichten, kam in den Regierungsjahren des Pracht und Spiel liebenden Kaisers Qianlong (1735–1799) auf, der etwa zu der Zeit, als August der Starke sein Grünes Gewölbe mit chinesischem Porzellan füllte, in Pekings Sommerpalast Versailler Bauten errichten ließ, in denen künstliche Nachtigallen sangen, Wasserkaskaden tanzten und Spieluhren sich im Kreis drehten. Unter seinen Nachfolgern gewann die Sitte, Vögel in Käfigen zu halten, immer mehr Anhänger. Mandschurische Beamte und Sinekuristen vor allem bezahlten Unsummen für besonders gelehrige oder farbenprächtige Exemplare, die so genannten »Beamten-« oder »Residenzvögel«. Als gegen Ende der Dynastie exotische Vögel auftauchten, trat für Pekings Bewohner ein weiteres Faszinosum hinzu: die berauschenden Farben des Federkleides, an der sie sich nicht satt genug sehen konnten, Gefieder nicht weniger prächtig als die Kostüme von aufgeplusterten Opernschauspielern, die auf der Bühne hin und her stolzierend ähnlich gellende und dramatische Laute von sich gaben, Schreie, die sich, wenn man sie nur genügend in die Länge zog, in Musik verwandelten, um den »sieben Gemütsregungen« Ausdruck zu verleihen: Freude, Zorn, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Begehren.

Autor

Rainer Kloubert (geb. 1944 in Aachen) studierte in Freiburg, Tübingen, Hongkong und Taiwan Sinologie und Rechtswissenschaften. Er war u. a. Sprachlehrer an der Militärakademie in Taiwan, Dolmetscher bei einem chinesischen Wanderzirkus und Anwalt in Taipeh. Er lebt in Peking und London.
Im Elfenbein Verlag erschienen bereits:
»Selbstmord ohne Hut« (1998)
»Mandschurische Fluchten« (2000)
»Der Quereinsteiger« (2003)
»Angestellte« (2008)
»Roons letzter Flug« (2009)
»Peitaiho« (2012)
»Yuanmingyuan« (2013)
»Peking« (2016)

Auszug

Als Nestlinge aufgezogene Drosseln wurden so zutraulich, dass man sie jederzeit freilassen konnte; auf eine Hand- oder Fingerbewegung hin flogen sie in den Käfig zurück — brav, geschäftig und zuverlässig, als hielten sie in der einen Klaue eine braune Reisetasche und in der anderen einen lose gefalteten Regenschirm. Sie setzten sich auf die Schultern ihres Herrn und sangen ihm Lieder ins Ohr, flogen ihm nach und apportierten Sächelchen. Er warf sie hoch in das Geäst eines Baumes, sie sangen ihr Lied und flogen auf sein Geheiß wieder in den Käfig zurück, hoben mit ihrem Schnabel das Vorhängelchen vor dem Türchen, blickten vorwitzig hinaus und ließen es wie ertappt wieder fallen, wenn sie ihren Herrn erblickten.
Der eigentliche Gesangsunterricht begann, wenn sich ihre Schwanzfedern herausgebildet hatten, ein Anzeichen dafür, dass auch die Stimme erwacht war. Ein schwaches Piepsen, das es nach Möglichkeit zu fördern galt. Ein probates Mittel bestand darin, ein Radio anzuschalten und auf einen zirpenden Langwellensender einzustellen. Beobachtete man den Vogel dabei, sah man deutlich, wie sich der winzige Kehlsack im Bemühen, die Laute nachzumachen, angestrengt füllte und wieder leerte. Als die ersten Grammophone nach Peking kamen, versuchte ein bekannter Schauspieler und Drosselliebhaber den Lernprozess mit Hilfe von Schallplatten zu vereinfachen und zu beschleunigen. Die Lektionen, einer Meisterdrossel abgelauscht, waren nach pädagogischen Gesichtspunkten zusammengestellt (in der Art von Berlitz-Sprachplatten: halbstündige Lerneinheiten, allmähliche Steigerung des Lautschatzes, Wiederholungen und Übungen). Die erste Drossel, an der er sie ausprobierte, versagte ihre Mitwirkung. Vielleicht mochte sie die Stimme des Lehrers nicht, so etwas kam auch bei natürlichen Lehrmeistern immer wieder vor. Einem zweiten Schüler standen die Kopffedern zu Berge — der Unterricht musste auf der Stelle abgebrochen werden. Erst bei einer dritten — hinterher als »Schallplattendrossel« in aller Munde — schien die neue Methode zu verfangen.

Pressestimmen

»In die Tradition des aufmerksamen Flaneurs dürfen wir Rainer Kloubert einreihen … er berichtet, mal anekdotisch, mal vernarrt, in Ansätzen auch enzyklopädisch, von den vielen Facetten dieser Kultur, von Lerchen, Sumpfmeisen und Drosseln und ihrer so schwierigen Erziehung, von der Kunst des schönen gefiederten Scheins und des makellosen Gesangs, von gewitzten Händlern und seltenen Volieren. Peking, das beklagen viele Kenner der Stadt nicht ohne Grund, hat nicht mehr viele Gesichter. Mit diesem Buch als Führer entdeckt der Besucher eine wunderbare neue Welt, sie ist klein, beweglich und hat unendlich viel zu erzählen.«
(Tilman Spengler, DIE ZEIT)

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