Jugend in Berlin
Nicolaus Sombart:
»Jugend in Berlin«
Ein Bericht. 1933–1943
Herausgegeben und mit einem Geleitwort von Carolin Fischer
Mit einem Nachwort von Tilman Krause
2022, Klappenbroschur, fadengeheftet, farbiges Vorsatz, 320 S.
€ 24 [D] / € 24,70 [A] / sFr 32,70
ISBN 978-3-96160-080-9

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Buch

Mit dem „Bericht“ über die Jahre seiner Jugend in Berlin sowie den „Reminiszenzen“ an seine Studienzeit in Heidelberg (vgl. „Rendezvous mit dem Weltgeist“, Band 2 der Autobiografie) startet eine Neuedition der autobiografischen Schriften Nicolaus Sombarts anläss­lich dessen 100. Geburtstages im Mai 2023. – Nach vierzigjähriger Abwesenheit und fast drei Jahrzehnten Beamtendasein beim Europarat in Straßburg kehrt Nicolaus Sombart 1982 als Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin ins Grunewaldviertel zurück, wo ein überraschendes Déjà-vu-Erlebnis zum Ausgangspunkt für ein folgenreiches Buchprojekt wird: „Alles war neu für mich, alles war unverändert dasselbe. Gleich um die Ecke bin ich zur Schule gegangen, wenige hundert Meter von dem schönen Haus entfernt, in dem ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht habe.“ – In dem aus einer „Plauderei am Kamin“ entstandenen Erinnerungsbuch „Jugend in Berlin“ beschwört Sombart die Atmosphäre des alten Berliner Villenvorortes: Er erzählt vom Lebensstil des Vaters, von der kosmopo­litischen Geselligkeit der Mutter, von der bündischen Jugend, von Freundschaften und ersten Beziehungen gleichermaßen wie von zahllosen bedeutenden Personen, die im Hause der Eltern verkehrten und dem Heranwachsenden Gesellschaft waren – Repräsentanten des „Alten Europa“ wie Hermann Graf Keyserling und Helene von Nostitz, Dichter wie Bruno Goetz und Grigol Robakidse oder ein noch unbekanntes Talent wie der junge Musiker Sergiu Celibidache. Darüber hinaus stellen das Porträt seines Vaters sowie die Gespräche mit Carl Schmitt wichtige Beiträge zur Erforschung der geistigen Haltung jener bildungsbürgerlichen Elite Deutschlands dar, die dem Nationalsozialismus nichts entgegenzusetzen vermochte. Der „Bericht“ ist – bei aller Subjektivität – ein höchst bemerkenswerter Versuch, eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des „deutschen Sonderweges“ zu finden.

Autor

Nicolaus Sombart (1923–2008), Sohn des Nationalökonomen Werner Sombart, war Gründungsmitglied der Gruppe 47. Er wurde 1952 in Heidelberg mit einer Dissertation über Henri de Saint-Simon promoviert. Zwischen 1954 und 1984 arbeitete er beim Europarat in Straßburg. Er schrieb u. a. Essays über Charles Fourier, Wilhelm II. und Carl Schmitt.

Herausgeberin

Carolin Fischer (geb. 1962) ist Professorin für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Pau (Frankreich). Ab 1993 war sie regelmäßiger Gast bei Nicolaus Sombarts sonntäglicher Teerunde, der verschiedene seiner Bücher in ihrem 1988 gegründeten Salon vorstellte. Bis 2009 lud sie zu diesem regelmäßig Künstler, Schriftsteller, Intellektuelle. Neben Marcel Beyer, Wolfgang Büscher, Ulrike Draesner, Joachim Helfer, Thomas Hettche und Sibylle Lewitscharoff las hier auch wiederholt Nicolaus Sombart, so anlässlich der Premiere seines Erinnerungsbuches »Journal intime 1982/83. Rückkehr nach Berlin«.

Beiträger

Tilman Krause ist Literaturkritiker und leitender Feuilletonredakteur der Zeitung „Die Welt“.

Auszug

Ich hatte eine außerordentlich privilegierte Kindheit. Sie war bürgerlich im besten Sinne des Wortes. Meine Eltern waren nicht reich, aber ein gewisser Wohlstand war das Selbstverständliche, über das man nicht sprach. Auch in meinem Elternhaus „hingen keine Gainsboroughs“, aber es war angefüllt mit den Requisiten, die zu den Essentials einer kultivierten Lebensform gehören. Was mir heute besonders phantastisch erscheint, war der Luxus an Raum (an Quadratmetern), über den vier Menschen – Vater, Mutter und zwei Kinder – verfügten. Da gab es Zimmer, die man tagelang gar nicht betrat. Das Arbeitszimmer meines Vaters in der oberen Etage war ein buon retiro, zu dem der Zugang nur unter Ausnahmebedingungen gestattet war. Die Küchen- und Kellerräume zu betreten war fast verboten. Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Vater niemals den Fuß in die Küche gesetzt hat. Den Wein holte er allerdings selbst aus dem dafür vorgesehenen Keller.
Selbstverständlich gehörten zu einem solchen Haus auch Dienstboten, eine Mamsell, das Zimmermädchen, ein Hausmeisterehepaar und eine französische Gouvernante. Bei großen Gelegenheiten kam Herr Misamer, ein perfekter Butler, der wenige Häuser weiter im Dienst war. Man sah ihn gelegentlich in den Straßen, in gelbschwarz gestreifter Weste, den Pudel seines Herrn spazierenführen. Das war wenig, verglichen mit dem Personal, das es in anderen Häusern gab, aber es erscheint mir heute wie ein Traum. Wenn man mich fragte, welches der entscheidende Indikator für die Kulturschwelle ist, die wir übertreten haben, so würde ich nicht zögern zu sagen, dass es das Verschwinden der Dienstboten ist.

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