Der Tod, so heißt es, macht alle gleich. In einer Hinsicht gilt dies ganz gewiß: Wer stirbt, ist seiner Nachwelt ausgeliefert. Denn Friedhöfe sagen nur wenig über die Verstorbenen aus, denen sie die letzte Herberge bieten. Friedhöfe leben vielmehr in und von der Nachwelt, leben von den Monumenten, die die Hinterbliebenen nicht den Toten, sondern ihrer eigenen Trauer setzen.
In fünfzehn Spaziergängen nähert sich der Autor fünfzehn Friedhöfen im deutschen Südwesten, vom Heidelberger Bergfriedhof bis hin zum jüdischen Friedhof in Worms. »Sentimental« oder »empfindsam« nennen sich diese Reisen, weil der Autor sich bei seinen Spaziergängen zu den verschiedensten Formen der Gestaltung seiner Eindrücke verleiten läßt. Neben Wanderungen über Totenäcker und deren Gräber finden sich Einblicke in die Empfindungen der diversen eigenartigen Besucher eines Friedhofs, Geschichten über die Schicksale einzelner Toten, ein Streitgespräch zwischen den berühmtesten Leichen eines Gräberfeldes und der bittere Brief eines Verstorbenen an die Nachwelt. Literarische Zelebritäten kommen ebenso ins Bild und zu Wort wie gestrenge Geistliche, kranke Schuster, jung-verliebt Verstorbene - sowie der Schöpfer und Beherrscher dieser Welt.
Ralf Georg Bogner (geb. 1967 in Wels/Oberösterreich), Literarhistoriker, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität des Saarlandes, lebt in Mannheim. Buchveröffentlichungen u. a: »Heinrich Heines Höllenfahrt« (1997), »Goethes Aufstieg ins Elysium« (1998), »Der Autor im Nachruf« (2004), »Leichabdankung und Trauerarbeit« (2009), »Ottakringer Sterbensläufte«. Mitherausgeber der »Klabund-Werkausgabe« im Elfenbein Verlag.
Nächtliche Begegnung: Der Alte Stadtfriedhof zu Freiburg i. B.
Jetzt war er erwischt! Ertappt! Tief nächtens am Friedhof! Wie furchtbar! Wie peinlich! Wie unausdenkbar die Konsequenzen! Johann Georg Jacobi nämlich war ein hochangesehener alter Mann. Einer der achtenswertesten Bürger der Stadt. Den alle höflich grüßten. Vor dem einer jeder sich ehrerbietig neigte. Professor der schönen Wissenschaften an der alten Albertina. Gern gesehener Gast in allen geselligen Zirkeln. Schriftsteller. Dichter. Gepriesener Musensohn. Der Korrespondenzen mit dem ganzen hohen gelehrten Deutschland unterhielt. Ein Großer. Eine Berühmtheit. Das fahle Licht des abnehmenden Mondes ließ bloß Schemen sichtbar werden. Dunkle Gräber, schwere Steine, falbe Ranken, kahle Bäume. Nur der ungefähre Umriß eines Menschen hatte sich in einiger Entfernung abgezeichnet. Eine dustere Säule die hohe Gestalt. Ein verwittertes Relief das blasse Gesicht. Ein stumpfer Turm der gequetschte Hut. Jacobi hatte sein unaufhörlich volles, dumpfes Schluchzen verschluckt. Er und der andere hatten sich, über den nächtlich verlassenen Friedhof streichend, im gleichen Augenblick gegenseitig bemerkt. Hatten im gleichen Moment, fatal erschrocken, auf ihren Wegen innegehalten. Waren gleichzeitig erstarrt. Limburger war es gewiß nicht, der Totengräber. Limburger war klein, gedrungen und feist von Gestalt. Verschwollen und rot, wie dem Platzen nahe, war sein Gesicht. Limburger trug nicht Hut, sondern Kappe. Limburger ging oder schlich nicht, er stampfte – wie viele andere hier – und er schnaufte. Besonders, wenn er ein gutes Trinkgeld wollte. Wie damals, bei Fritzchens Tod. Das Fritzchen, Jacobis einziger Sohn, war mit kaum siebzehn Jahren von Limburgers groben Händen zur Erde gebettet worden. Mit leisen, aber rotzigen Flüchen von Professoren und Protestanten. Limburger hätte Jacobi – wie viele andere hier – jetzt verraten und ruiniert. Doch Limburger wars nicht. Zu dieser späten Stunde schlief er ohne Zweifel den unbeirrbaren Schlaf der großen immerdurstigen Trinker. Wer hier in dieser Stadt hätte Jacobi nicht hämisch, mißgünstig und odiös verraten? Und in den Ruin der bürgerlichen Ehre getrieben? Betreten und überrascht lange nach Mitternacht auf dem dusteren Gottesacker? Heulend und knirschend!? Das konnte nicht ehrlich und nicht mit rechten Dingen zugehen! Den furchtbaren Frei- geistern beispielhalber sagte man nach, ihre Toten neuerdings bei tiefster Nacht zu bestatten! Man hatte es bei Jacobi immer geahnt!
Jacobi nämlich galt als Ketzer. In Freiburg und im Breisgau, wo seit Menschengedenken jeglicher redliche Mann – und der war bis vor kurzem ja auch noch ein guter Österreicher – sich aufrecht katholisch bekannte, in Freiburg war die evangelische Konfession Skandal. Nur deswegen, weil diese Blasphemie von Staats wegen jetzt erlaubt worden war, nur deswegen war sie noch keineswegs gutzuheißen. Fast dreißig Jahre lang lebte und lehrte Jacobi nun schon hier, geachtet, hochgelobt und ehrbekränzt. Und dennoch war der letzte Rest an Distanz und Reserve, welcher Achtung und Ehrung von Freundschaft und Liebe trennt, niemals geschwunden. An seinem Grab, das der betrunkene Limburger dereinst, fünf Schritte von hier, gleich neben Fritzchen, ausheben würde, da würde kaum einer innige Tränen vergießen. Dabei war er nicht einmal dogmatischer Lutheraner. Und wer an ihm nicht den gotteslästerlichen Protestanten schalt, der glaubte nur allzu gerne gewissen Gerüchten. Jacobi habe demzufolge einst in einer Schrift (deren freilich niemand habhaft werden zu können schien) sich selbst als Freidenker und als starken Geist bekundet, ja habe die mächtige Lehre des Christentums zu einer schwärmerisch-schwülstigen Religion empfindsamer Seelen herabgewürdigt. So stand es um den hochangesehenen Mann, der jetzt auch noch nach Mitternacht am Totenacker grienend betreten wurde. Jacobi starrte auf den anderen nächtlichen Friedhofsbesucher. Der starrte auf ihn. Sie hätten sich etwas zurufen können. Oder zuwinken bloß einander. Oder eine leichte Geste andeuten. Doch sie standen ohne Bewegung und schwiegen und stierten. Jacobi war ratlos, war immer noch, trotz schärfsten Nachdenkens, im Ungewissen, wen er vor sich habe. Und damit auch im Ungewissen, was ihn erwarten würde. Wenn seine garstigen nächtlichen Gänge in Freiburg jetzt ruchbar wurden! Unter den Professoren! In den geselligen Zirkeln! In der höheren Stadtverwaltung! Und beim Minister!
Jacobi hatte, seitdem er hier die schönen Wissenschaften lehrte, so manchem Herren gedient. Er war gekommen, als Freiburg noch zu Österreich gehörte, zu Vorderösterreich. Berufen vom zweiten Kaiser namens Josef, der, anders als seine Vorgänger, sich aufklärerisch gerierte. Jacobi als erster nicht-katholischer Professor in Freiburg. Es folgten Leopold und später Franz am Kaiserthron. Besonders letzterer gerierte sich indes gar nicht mehr aufgeklärt. Von allen Ketzern und freien Denkern wollte die Universität er säubern. Wollte die Lehrstühle, wie schon am akademischen Gymnasium, mit satten, reichen, wohlgenährten Benediktinern und mit klugen, politisch zuverlässigen ehemaligen Jesuiten besetzen. Die alten Professoren, schon gar die Protestanten, wollten doch alle auch, wie bei den wahnwitzig gewordenen Welschen, die Revolution! Von Amts wegen setzte Franz, dem drohenden Aufstand zu steuern, Kundschafter, Konfidenten und Spione ein. Die forschten in den Lesezirkeln nach gefährlichen Impressa, die horchten in den Schenken und Kaffeehäusern auf alle bedenklichen Worte, die spitzten in den Kollegien und Seminaren auf verdächtige Äußerungen. Das findige Haupt der Truppe war ein hagerer verbissener Hüne mit gequetschtem Hut, der Kriminalrat Joseph Thaddäus Vogt von Sumerau. Der hatte Jacobi geschadet und schikaniert, wo und wie er immer nur konnte. »Wäre der«, so hatte er über den Professor der schönen Wissenschaften an seine vorgesetzte Behörde gemeldet, »wäre der doch in Halberstadt geblieben!« Jacobi blieb dann doch in Freiburg, und die Stadt fiel wenig später an den Herzog Herkules den Dritten, der im fernen Modena regierte. Auch Sumerau blieb, verbissener denn je, weil er jetzt nicht mehr spionieren durfte. Und wenige Jahre später sollte es dem großen Kaiser Napoleon gefallen, die Stadt Freiburg im Breisgau samt ihren Untertanen an den kurfürstlichen Großherzog von Baden zu verschenken. Weiterhin von Katholiken umgeben, stand Jacobi jetzt in Diensten eines protestantischen Karlsruher Fürsten.
Verse schrieb er schon lange nicht mehr. Manche seiner so überaus empfindsamen Gedichte waren berühmt geworden im ganzen großen Deutschland. »Die Linde auf dem Kirchhof« vor allen anderen wurde allüberall als ein Lied gesungen. Den Dichter hatte man vergessen. Sein Name war von den Größen der nächsten Generation verspottet worden. Von Lichtenberg, Klopstock und Herder, von Nicolai und von Goethe. Jetzt gab Jacobi nur noch eine kleine empfindsame Zeitschrift für Frauenzimmer heraus. Redigierte. Korrigierte. Lektorierte. Und las an der Albertina die schönen Wissenschaften. Rhetorik. Ästhetik. Litterärgeschichte. Metaphysik. In Halberstadt hätte er bleiben sollen. Dort hatte er einstmals mit seinem Bruder im Geiste, dem Dichter Gleim, den Kult der Freundschaft in zärtlichen Briefen und innigen Versen gefeiert. Hier hingegen fühlte er sich, bei aller Reputation, von Argwohn umschlossen.
Die Freunde in der Ferne waren alle schon lange verstorben. Gleim und Klotz und Sophie von La Roche. So war Jacobi, wenn er sich nach seinen innigsten und empfindsamsten Verbindungen fragte, fast nur noch von Toten umgeben. Sein Herz war ein Friedhof. Seine Seele ein Tränen- strom. Sein Geist war vornehmlich Verstorbenen zugewandt. Wenn dann sein Körper nach dem städtischen Totenacker strebte – und das tat er immer wieder –, ließ Jacobi es sich gefallen. Am Tage allerdings war Limburger nicht zu umgehen. Limburger. Dick. Breit. Nach Trinkgeld brummend. Fluchend. Besoffen. So schlich Jacobi in tiefer Nacht auf den Kirchhof. Hier kam sein von Freunden verlassenes trauriges Herz in empfindsamen Einklang mit dem einsamen trüben Totenacker. Und er war seinem Fritzchen nahe! Sein braves Weib, nicht einmal halb so alt wie er es war, schlief einstweilen mit der gesegneten Ruhe von jungen Menschen. Auch sonst hatte bislang noch niemand die abseitigen Wege seiner Nächte gekreuzt – bis heute. Aber was war daran denn gar so schrecklich?! Jacobi war alt. Ihm blieben wohl kaum noch wenige Jahre. Er fühlte sich selbst mehr unter den Toten als unter denen, die lebten. Was würde die öffentliche Entdeckung seiner tiefnächtlichen Totenacker-Spaziergänge denn für ihn noch bedeuten?! Er hatte sein Dasein ja schon ganz den Tränen geweiht. Jetzt hatte Jacobi auch den anderen erkannt. Es war tatsächlich Sumerau. Der hatte sich wohl auf das Spionieren als seine Privatpassion verlegt. In der Stadt jedoch hatte der schon lange, seit Herkules des Dritten Zeiten, kein bißchen mehr an Einfluß. Jacobi schluchzte wieder. Voller und dumpfer denn je. Er wandte sich ab. Er schlich weiter. Er war dem Fritzchen bereits sehr nahe.
Der Alte Friedhof zu Freiburg im Breisgau ist täglich geöffnet. Er liegt ca. 10 Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, ist aber auch mit Buslinie 14 erreichbar. Die Schriften des zu seiner Zeit hochberühmten Johann Georg Jacobi sind, wie ihr Autor, längst tot und vergessen, und seit Jahrzehnten nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Neben Jacobi beherbergt der Alte Friedhof auch die sterblichen Überreste des Archäologen Anselm Feuerbach, des Buchhändlers und Verlegers Bartholomä Herder und des Malers und Architekten Christian Wenzinger.
© 1998 Elfenbein Verlag
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