Die schwüle und sinnliche Atmosphäre der europäischen Dekadenz um 1900 bestimmen Paul Leppins Roman »Daniel Jesus«, der die widersprüchlichsten Reaktionen weckte und von vielen Lesern seines erotischen Gehalts wegen als pornographisches Werk missverstanden wurde. Als »schweinisch, widerlich und blasphemisch« wurde er von den zeitgenössischen Kritikern beschimpft. Leppin sah sich genötigt, sein Buch zu verteidigen: Er habe die »Not und die Angst der Menschen zu schildern versucht, die von der Qual des Geschlechtes gepeinigt sind.« Daniel Jesus, die zentrale Figur des Romans, erscheint wie ein Rattenfänger, ein Verführer, ja der Anti-Christ schlechthin, der die Menschen geradewegs ins Verderben treibt. Er bemächtigt sich wie ein Dämon ihrer Seelen, sein Credo ist die Weltverneinung und der Hass. Dieser Roman spiegelt die Welt von »Eyes Wide Shut« - allerdings schon über zwei Jahrzehnte bevor Arthur Schnitzlers »Traumnovelle«, die literarische Vorlage zu diesem Kinofilm, erschien.
Paul Leppin (1878-1945) war als Prager Literat ein erklärter Anti-Philister und Mitglied der Schriftstellervereinigung »Concordia«. Als Wortführer des jungen Prag war er in dem 1885 gegründeten »Verein deutscher bildender Künstler« in Böhmen aktiv. »Daniel Jesus« erschien erstmals 1905 und wurde in einer überarbeiteten Fassung in der expressionistischen Zeitschrift »Der Sturm« sowie 1919 ein letztes Mal in Buchform publiziert. Leppin blieb als einer der wenigen deutschsprachigen Autoren bis zuletzt in seiner Heimatstadt. Eine Wiederentdeckung dieses mit Prag so unwiderruflich verbundenen Repräsentanten des Fin de siècle steht noch aus.
Ein Faschingsfest im Frühling, dachte Marta-Bianka und öffnete die Tür zum Saal. Eine jauchzende Tanzmusik lockte, sehnsüchtig und wundervoll, heiter und träumerisch, als ob bunte Perlen von den Fiedelbogen zur Erde rollten, schmerzlich und schwärmend. Liebeslieder in denen Glut und Andacht und Verlangen brannte und die süß waren wie die Küsse einer Frau. Helles Licht umfing sie. Sie mußte die Augen schließen und tastete hilflos mit den Händen nach der Wand. Als sie aufsah, strahlte der silberne Saal von Blumen und Lichtern, mit schimmernden Glastränen an den Lustern und farbigen Kristallen vor den Flammen. Die Musik spielte unsichtbar hinter einem Vorhang. In der Mitte des Saales saß Daniel Jesus auf einem scharlachfarbenen Thron neben einer nackten, ungeheuren Frau, die das Haar wie eine Krone gebunden hatte und mit leuchtendem Gesicht den buckligen Jesus ansah. Und in der Runde tanzten die Menschen toll und erhitzt im Rausch, den die Musik über die Herzen brachten und der schwer und rot wie die Liebe ihr Blut überkam beim Tanze.
»Selten habe ich ein widerlicheres Buch in die Hand bekommen.«
(Richard Schaukal, Das literarische Echo, 1905)
»Paul Leppin ist der eigentlich erwählte Sieger des schmerzlich verlöschenden Alt-Prag, der verrufenen Gäßchen, der durchzechten Nächte, der Vagabunden und der vergeblichen Gläubigkeit vor prunkvoll barocken Heiligenfiguren.«
(Max Brod)
»Ein grosser kantiger Vampirflügel mit Apostelaugen schwebt Paul Leppins Roman: ‚Daniel Jesus' vor mir auf. Hier wandelt nicht das Werk auf Füssen und ich suche nicht nach seiner Erde. Paul Leppins Roman ist eine Flügelgestalt, Himmel und Hölle schöpfen Atem aus ihrem rauschenden Brunnen.«
(Else Lasker-Schüler)
»Eine Reihe widerlicher Orgien mit etwas mystischem Gefasel um die Cochonnerien herum.«
(Arthur Eloesser, Die neue Rundschau, 1905)
»Ein Buch aus dieser Zeit. Es demonstriert den Begriff der Moderne. Es ist ein Expressionismus, aus dem Baudelaire und Meyrink, die Symbolisten so gut wie der Emanuel Quint heraustönen.«
(Hermann Broch)
© 2001 Elfenbein Verlag
Startseite