Eine junge Touristin folgt während einer Tempelbesichtigung einem grünschillernden Vogel in den Urwald und findet sich plötzlich um Jahrhunderte zurückversetzt in das Leben eines alten indianischen Bauernpaares. Ein Mann verliert sich fast auf der Suche nach seiner verschollenen Gattin, um sie schließlich in der Gestalt einer alten Mayafrau in einem entlegenen Fischerdorf zu finden — und endgültig zu verlieren. Eine alte Frau aus Europa findet auf dem Opferstein einer im Meer versunkenen Tempelanlage den Armreif, den ihre Tochter bei ihrem Unfalltod trug — und weiß fortan, dass ihr Kind in einem anderen Leben weiterexistiert. Stefanie Tutepastells Erzählungen entführen in eine fremde und doch seltsam vertraute Welt unter der heißen Sonne Yucatans, in der überwucherte Tempelanlagen und versunkene Dörfer noch immer von vergangenen Zeiten erzählen. Meist sind es Besucher aus Europa, die in der Begegnung mit den Mythen der Maya alte Wahrheiten, neue Welten entdecken und sich in ihnen verlieren. Die Erzählungen sprechen von einer tiefen Liebe zum Land der Maya, in dem bis heute die Nachfahren dieses geheimnisvollen Volkes leben. In der surrealistischen Tradition lateinamerikanischer Literatur erzählt, führen sie den Leser in eine Welt, in der Wahrheit und Fantasie, Realität und Traum aufgehoben sind.
Stefanie Tutepastell lebt heute — nach vielen Jahren in São Paulo/Brasilien — in San Miguel de Allende/Mexiko. Ihre Erzählungen schrieb sie, nachdem sie 1985 bis 1991 immer wieder einige Wochen in Yucatán verbracht hatte.
Im Labyrinth des Pumas
Etwas zwang mich, näher an ihn heranzutreten und ihm direkt in die dunklen, unbewegten Augen zu blicken, die so rätselhaft auf mir ruhten. Diese Augen gaben mir ein beängstigendes Gefühl. Es war, als sähen sie durch mich hindurch in namenlose unergründliche Welten, Welten, die sich in der gelebten Zeit verloren hatten. Da sah ich eine magische Bewegung in seinem linken Auge, und alles um mich vergessend, trat ich ganz nahe auf ihn zu. Dort, in diesem Auge, geschah noch immer in unaufhörlichen Kreisen und Bindungen, was einmal vor langer Zeit stattgefunden hatte. Die feinen Adern im Kreis des Auges und der Strahlenkranz der Pupille bildeten ein auswegloses Labyrinth, in dem sich ein Puma drehte und wand, um dem Tod zu entgehen. Ich war sprachlos und starrte auf dieses sich krümmende Tier. Dann erkannte ich, dass nicht nur ein Puma um sein Leben kämpfte, sondern ich sah auch den dunklen Menschen, der mit dem Tier um sein Leben rang. Der Kampf war ohne Anfang, ohne Ende, und beide, Tier und Mensch, gingen eine unauflösliche, über den Tod reichende, sich ewig erneuernde Symbiose ein.
© 2004 Elfenbein Verlag
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