Marokko in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Marcel erinnert sich an seine Kindheit in Casablanca. Er erzählt aber nicht nur die Geschichte eines Jungen, der dabei ist, sich von seiner Familie zu lösen, und mit den Tücken des Erwachsenwerdens zurechtkommen muss. Er erzählt auch die Geschichte einer jüdischen Familie in permanenter Aufbruchstimmung: Während die Großeltern noch ganz im Mellah, dem alten jüdischen Viertel der Stadt, verwurzelt sind, leben die Eltern im Geiste bereits im ersehnten Frankreich, und die ältere Schwester bricht schon auf ins Gelobte Land. Und schließlich erzählt er von den letzten Minuten des marokkanischen Judentums vor dessen Exodus: Die überwältigende Mehrheit der zweihunderttausend Juden Marokkos wanderte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel aus; diejenigen jedoch, die ein bürgerliches Leben anstrebten, gingen – wenn nicht nach Amerika – nach Frankreich, zu »ihrem« Charles de Gaulle.
Isabelle Azoulay (geb. 1961) wuchs in Paris auf, studierte an der Sorbonne und in Frankfurt am Main Soziologie und lebt heute in Berlin. Sie veröffentlichte bereits die soziologischen Studien »Phantastische Abgründe« (1996), »Die Gewalt des Gebärens« (1998) und »Schmerz« (2000), ist Gründerin der Berliner Künstlergruppe »ImWestenWasNeues« und Initiatorin des ersten »Mobile Film Festivals« 2007. »De Gaulle und ich« ist ihr literarisches Debüt.
Als meine Schwester Alia fünfzehn Jahre alt wurde, begann sie Pierre zu mögen, zu lieben – einen neunzehnjährigen Schönling. Sein schüchternes Lachen hatte ihr Herz schlagartig bestochen. Zudem besaß er noch den Mut, ihr zu sagen, dass er gern seine Zeit mit ihr verbrachte. Sie begann von seiner Umarmung zu träumen. Dann tauschten sie Träume aus. Sie steckten in Wörtern wie »Tour Eiffel« oder »Soirée dansante«. Wenn sie zusammenkamen – natürlich mit ihren Cliquen – zogen sie alle Blicke auf sich: Jedes Kind spürte, wie sie danach gierten, sich anzufassen. Wenn ich sie zusammen sah, machte ich mich aus dem Staub. Ich fand es kühn, nicht diskret sein zu wollen. Und ich dachte auch, dass solche Flirts ohne Geheimnis witzlos seien. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich deshalb genierte, weil sie meine Schwester war. Auf jeden Fall hatte die Leichtigkeit, die die beiden zeigten, etwas von einem aufregenden Spiel, in dem der von den Eltern geforderte Anstand nur mühsam bedient wurde. Alia wusste dennoch genau, dass sie bei all ihrer Vorsicht und Zurückhaltung mehr die eigene Scheu in Schach hielt. Dicht am Feuer ihrer Sehnsucht spürte sie, dass es wirklich um etwas ging. Sie wusste, dass der Tag, an dem sie den Mut aufbringen würde, sich hinzugeben, sie ein bisschen von ihrem Vater trennen würde. Es war ein Entweder-Oder. Pierre zu begehren war Verrat am Alten. Ganz richtig.
Pierre war im Gegensatz zu Alia in seiner Seele ein Kälbchen. Und es war ihr recht so. Unmerklich milderte das den Verrat am Alten. Nahezu beruhigend. Aber es gab da einen kleinen Haken: Pierre hatte nicht alle Karten auf den Tisch gelegt, und irgendwie ahnte er – obgleich Kälbchen – dass nicht alles wirklich glatt verlaufen würde. Er kaschierte etwas. Der junge Mann war gesellschaftlich weder Fisch noch Fleisch: Einmal hatte er gesagt, sein Vater sei Immobilienbaron, der irgendwann ausgestiegen und in einer Jeschiwa in Israel untergetaucht sei. Trotzdem verstand niemand so richtig, woher seine Familie kam und wo sie lebte. Da Pierre aber immerzu sagte, er wolle nach Amerika gehen, kam er gut durch – das besänftigte die Neugier der Verwandten, der Tanten, der Onkel. Gegenüber Alia beteuerte er allerdings, sie nach Frankreich begleiten zu wollen.
Einmal brachte Alia ihn mit nach Hause – mit anderen zusammen natürlich. Meine Mutter fragte ihn schlicht: »Was bist du?«
»Mormone.«
Diese Antwort machte alle perplex. Mormone. Das hatte man noch nie gehört. Da keiner wusste, was das bedeutete, blieb jeder Kommentar im Halse stecken.
»Mormone oder nicht Mormone – ist mir egal«, verkündete meine Mutter. »Wenn er Jude ist, ist es mir egal.«
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