Ritsos: Martyríes — Zeugenaussagen
Jannis Ritsos:
»Martyríes — Zeugenaussagen«
Drei Gedichtreihen
Griechisch — Deutsch
Übersetzt von Günter Dietz und Andrea Schellinger
Anmerkungen und Nachwort von Günter Dietz
2009, Ln., 336 S.
€ 24 [D] / € 24,70 [A] / sFr 34,70
ISBN 978-3-932245-96-1
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Buch

Jannis Ritsos erlebte extremes Unrecht und Gewalt in den unterschiedlichsten Formen und wehrte sich auch als Dichter mit aller Kraft dagegen. In den Kurzgedichten der »Zeugenaussagen«, die sich als eigenständige Form in drei »Reihen« zwischen 1957 und 1967 – dem Jahr seiner erneuten Verhaftung durch die Obristen – zu vollkommener Reife heranbildeten, fand er eine Möglichkeit, tragende Momente des Zeitbewusstseins (von Individuum und Gesellschaft) festzuhalten, Strukturen und typisches bzw. atypisches Verhalten aufzuzeigen. 1962 schrieb er in einer Notiz: »Ich kann nicht genau sagen, warum ich diese lakonischen und häufig epigrammatischen Gedichte schreibe. Vielleicht aus der Notwendigkeit blitzartiger Reaktionen auf gravierende, dringliche Probleme unserer Zeit, außerdem vielleicht aus dem Wunsch heraus, einen Augenblick herauszulösen und alles festzuschreiben, was seine tiefenmikroskopische Untersuchung und darüber hinaus die Aufdeckung sämtlicher Zeitelemente, die sich ansonsten in unbegrenzter Breite vermutlich in Luft auflösten, erlauben würde – und somit ein Erfassen des Unteilbaren ›mittels Teilung‹, ein Erfassen der ewigen Bewegung ›mittels Bewegungsstopp‹.«

Autor

Der Lyriker Jannis Ritsos (1909–1990) zählt mit den Nobelpreisträgern Giorgos Seferis und Odysseas Elytis zu den bedeutendsten Dichtern der sogenannten »Generation von 1930«, die eine modernistische Wende in der griechischen Dichtung herbeiführten. Als jüngster Sohn einer vornehmen Familie von Landbesitzern in Monemvassia (Lakonien) geboren, erlitt er als Kind schwere Schicksalsschläge: Seine Mutter starb bereits 1921 an Tuberkulose, er selbst musste wegen dieser Krankheit auf ein Studium verzichten und war später immer wieder gezwungen, Sanatorien und Kliniken aufzusuchen. Auch den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang der Familie erlebte Ritsos bereits als Kind: Sein Vater verlor Grundbesitz und Vermögen. Anders als Seferis und Elytis sympathisierte Ritsos ab 1931 mit der kommunistischen Partei Griechenlands, was beginnend beim autoritären Metaxas-Regime bis hin zur Obristendiktatur immer wieder Verfolgung und Inhaftierung für ihn bedeutete. Ritsos verbrachte mehrere Jahre in Konzentrationslagern für politische Gefangene auf verschiedenen griechischen Inseln, zuletzt stand er 1969/1970 unter Hausarrest auf Samos.

Auszug

Antikes Theater (Reihe I, Nr. 78)

Als er gegen Mittag im Zentrum des antiken Theaters stand,
ein junger Grieche, arglos, doch so schön wie jene,
stieß er einen Schrei aus (nicht der Bewunderung; Bewunderung
war’s mitnichten; wäre sie fühlbar gewesen,
hätte er sie nicht ausgedrückt), schlicht einen Schrei
vielleicht in der unbändigen Freude seiner Jugend,
vielleicht um die Akustik des Raums zu erproben. Gegenüber
gab an den steilen Bergen das Echo Widerhall —
griechisches Echo, das nicht nachahmt, nicht wiederholt,
einfach nur fortsetzt in unermesslicher Höhe
den ewigen Jubelschrei des Dithyrambus.


Kastaniá (Reihe II, Nr. 109)

Dort oben hat man die vierzig umgebracht. Morgen
ist es zwanzig Jahre her. Keiner hat ihren Namen genannt.
Du begreifst, was wir durchgemacht haben. Jedes Jahr
an diesem Tag fand man unter den Pappeln
einen zerbrochenen Ziegel, zwei erkaltete Kohlestücke, ein wenig Weihrauch,
einen Korb mit Trauben, eine Kerze aus Bienenwachs
mit schwarzem Docht. Nicht mal richtig gebrannt hat sie. Der Wind blies sie ständig aus.
Daher sitzen die Greisinnen abends an den Türen wie alte Ikonen,
daher sind die Augen unserer Kinder so rasch erwachsen geworden
und unsere Hunde tun, als schauten sie weg, wenn Gendarmerie vorbeikommt.


Verräterische Zeichen (Reihe III, Nr. 39)

Er sperrte sich ganz in Gips, Körper, Hände, Gesicht.
Stundenlang steckte er in dieser unterirdischen Feuchte. Trocknete.
Danach holte er ganz tief Luft; sprach mit sich. Da
brach die Gipsform lotrecht in zwei Teile; und er
blieb aufrecht, höflich, stolz, inmitten
der zwei hohlen Hälften seiner inneren Statue, wissend,
dass er nunmehr sich selbst in Gips, Ton oder auch Bronze
wiederholen könnte – immer unbekannt, fremd,
immer mit dem Zeichen der Spaltung genau an der Verbindungsstelle.
Athen, 1. IV. 67

© 2009 Elfenbein Verlag

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