Makellose Verse – das zeigt Günther Debon in seinem Essay, der hier erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht wird – gibt es die Menge; makellose Strophen schon weniger, makellose Gedichte sehr selten. Ein Gedicht, das nur aus vollkommenen Versen bestünde, würde leicht den Eindruck des Sterilen und Gekünstelten hinterlassen. – Beim „Messen“ der unterschiedlichsten Formen der Dichtung geht Debon von der Qualität im Sinne der Eigenschaft aus und gelangt unversehens zur Qualität im Sinne des Wertes. So schafft er Maßstäbe, nach denen ein Vers als gelungen oder bedenklich eingestuft werden kann. Dass der Sinn indes nicht messbar ist, liegt auf der Hand. Schon die Romantik hatte sich nicht selten an der Grenze des Unbegreiflichen bewegt, und spätestens Expressionismus, Symbolismus und Surrealismus scheinen sich der rationalen Betrachtung zu entziehen. Anders als an Schulen und Universitäten gelehrt sowie in der Forschung und Literaturkritik praktiziert, prüft Günther Debon Dichtung hier nicht ausschließlich auf ihren Inhalt hin: nicht literaturgeschichtlich, soziologisch, autobiografisch oder psychologisch. Er beleuchtet den Sinn des Verses in seinem Zusammenspiel mit der Form, da sie, grob gesprochen, die Hälfte des Kunstwerks ausmacht. Das handwerkliche Können, das oft wie selbstverständlich vorausgesetzt wird, rückt er in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, will den Dichter mehr als Künstler denn als Künder verstehen.
Günther Debon (1921–2005) studierte Sinologie, Japanologie und Sanskrit. Zwischen 1968 und 1986 hatte er den Lehrstuhl für Sinologie an der Universität Heidelberg inne. Nach seiner Emeritierung widmete er sich auch der deutschsprachigen Literatur und hier insbesondere den Klassikern Goethe und Schiller. Mit Günter Eich zählte Günther Debon zu den profiliertesten Übersetzern chinesischer Lyrik. So erschienen u. a. »Herbstlich-helles Leuchten überm See. Chinesische Gedichte aus der Tang-Zeit« (1953), Lao-Tses »Tao-Tê-King – Das Heilige Buch vom Weg und von der Tugend« (1979), »Mein Haus liegt menschenfern, doch nah den Dingen. Dreitausend Jahre chinesischer Poesie« (1988), »Am Gestade ferner Tage. Japanische Lyrik der neueren Zeit« (1990).
Im Elfenbein Verlag erschien zuletzt 2003 eine repräsentative Auswahl aus dem dreitausend Jahre alten ›Kanonischen Buch der Lieder‹ (Shih-jing) unter dem Titel »Der Kranich ruft. Chinesische Lieder der ältesten Zeit«.
Metrum und Melodie
Dass Dichtung ursprünglich gesungen, zumindest als Sprechgesang vorgetragen wurde, kann vermutet werden. Diese Verknüpfung währte noch lange Zeit, und Lyrik war der zur Lyra gesungene Text. Einmal aber machte die Dichtung sich selbständig. Seitdem darf behauptet werden, dass ein vollkommenes Gedicht durch die Vertonung Schaden erleidet. Die Verse Hölderlins oder Stefan Georges möchten wir nicht in Musik gesetzt hören. Dasselbe gilt für „Füllest wieder Busch und Tal“ oder „Über allen Gipfeln / Ist Ruh’“. Anders ist es bei den volksliedhafen Gedichten: Sie rufen nach der Vertonung. Viele sind uns nur in gesungener Form ans Herz gewachsen: „Der Mond ist aufgegangen“ (Claudius/Schulz), „In einem kühlen Grunde“ (Eichendorff/Glück), „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“ (Eichendorff/Fröhlich), „Das Wandern ist des Müllers Lust“ (Müller/Zöllner), „Am Brunnen vor dem Tore“ (Müller/ Schubert), „Ich hatt’ einen Kameraden“ (Uhland/Silcher), „Abend wird es wieder“ (Fallersleben/Rinck), „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ (Heine/Silcher) u. v. a. Goethe schrieb einen großen Teil seiner Gedichte für die Vertonung durch Reichardt, später durch Zelter, auch die Lyrik des „West-östlichen Divan“. „Ach, um deine feuchten Schwingen“, der Beitrag Marianne von Willemers, wurde durch die Vertonungen von Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Hugo Wolf zum bekanntesten Gedicht des „Divan“. Wir rechnen die Verse den vollkommenen zu und bedauern nicht, dass wir sie ohne fremde Melodie im Ohr haben. Nicht nur die Wirkung des Reimes wird durch den Gesang geschwächt, vor allem die Metrik leidet unter ihm. Natürlicherweise wird eine Silbe durch eine Note wiedergegeben:
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit […]
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war!
Oft wird eine Silbe auf zwei Noten verteilt:
Kli–ingt ein Lied mir immerdar;
Oder:
Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Li–indenbaum;
Der gute Sänger verschleift solche Tonsprünge, und maßvoll eingesetzt, können sie den Klang eines Verses sogar verschönen, da sie die Häufung störender Konsonanten mildern. Wiederholte Sprünge sind aber misslich:
Ade zu–ur gute–en Nacht,
Jetzt wird de–er Schluss ge–emacht,
Dass ich mu–uss schei–eiden.
»Aus Günther Debons Nachlass liegt eine Studie zum deutschen Vers vor, die ins Handwerkszeug eines jeden Dichters und Übersetzers gehört - ein Vademekum.«
(Wolfgang Kubin, Orientierungen)
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