Der Zufall der Jahrestage fordert dazu auf, einen bisher wenig beachteten Aspekt im literarischen und fotografischen Werk Einar Schleefs 2011 in den Blick zu nehmen: Deutlicher noch als während der Jahre in der DDR bildet nach seiner »Republikflucht« die Berliner Mauer, deren Bau sich am 13. August zum fünfzigsten Mal jährt, ein zentrales Motiv in einer Reihe von Erzählungen und Tagebuchnotizen Schleefs, der am 21. Juli 2001 auf dem Höhepunkt seines Schaffens überraschend starb. Immer wieder sucht das Erzähler-Ich das »Bollwerk« auf, die Spaziergänge »enden immer irgendwann an der Mauer«. – Dieser Band versammelt Erzählungen und Tagebuchnotizen, darunter zahlreiche bisher unveröffentlicht, sowie bislang nur in Ausstellungen gezeigte Fotografien der Berliner Mauer aus den achtziger und neunziger Jahren.
Einar Schleef (1944–2001) war nicht nur einer der einflussreichsten Theaterregisseure im deutschsprachigen Raum, sondern auch einer der vielseitigsten und begabtesten Gegenwartskünstler – er war Maler, Grafiker, Bühnenbildner, Fotograf, Schauspieler und Schriftsteller. Nach seinem Diplom an der Ost-Berliner Akademie der Künste entstanden bis 1975 in Zusammenarbeit mit B. K. Tragelehn seine ersten Inszenierungen am Berliner Ensemble, die von offizieller Seite allerdings abgelehnt wurden. Als Schleef 1976 während einer Inszenierung am Wiener Burgtheater eine Fahrt in die Bundesrepublik unternahm, wurde er für »republikflüchtig« erklärt, woraufhin er sich dazu entschied, nicht in die DD zurückzukehren. In West-Berlin arbeitete er nach einem Regiestudium zunächst für den Rundfunk, an verschiedenen Stücken sowie an dem monumentalen Romanprojekt »Gertrud«, bis ihn 1985 das Schauspiel Frankfurt mit Regiearbeiten beauftragte. Nach der Wende ans Berliner Ensemble zurückgekehrt, verschaffte ihm seine provokative Inszenierung von Rolf Hochhuths Stück »Wessis in Weimar« auch außerhalb des Theaters große Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt machte ihn sein unkonventionelles Auftreten gegenüber Intendanten bald zu einem der umstrittensten Theatermacher. Einar Schleef starb 2001 überraschend an einem Herzleiden.
F E I E R A B E N D
Walter liest die EINHEIT, Hilde schlürft Kaffee: Walter, jetzt gibts schöne Musik, bitte, Walter. Walter am Radio: Was willst du, schöne Musik. Bitte keinen Osten. Das ist Radio DDR. Gitte. Laß an. Walter liest weiter. Noch Kaffee? Nein. Hilde, manchmal weiß ich nicht, was los ist. Walter, die Gitte ist bei uns populär, nicht nur im Westen, die singt im Osten und im Westen. Fein. Ich würde gern Udo Jürgens sehen. Richtig wie im Leben. Es geht uns von Jahr zu Jahr besser. Da können wir uns was leisten. Devisen, Walter. Und Silvester die Transvestitenshow, igittigitt war das schön. Hilde im ZDF. Was. Im ZDF. Siehst du, Walter, man merkt es gar nicht mehr, paß auf, dauert nicht mehr lange, da ist das alles einunddasselbe. Der KESSEL BUNTES kommt längst mit HITPARADE und Ilja Richter mit. Sind ja die gleichen Sänger! Fast. Naja, ganz Verrückte wollen wir hier auch nicht hören, aber Udos: Aber bitte mit Sahne! Das ist was für mich. Biermann! Ein Arschloch! Den ganzen Abend. Stunden! Daß dem die Fresse nicht abfällt! Sollte das ZDF lieber flotte Musik bringen, nen Krimi, ne Revue, die Abbas! Der will in den OSTEN zurück, wo alle hier in den WESTEN wollen! Sollte mich mal nach Köln fahren lassen! Ja! Kleinen Schnaps, Hilde? Black und White. Tut dein Bein noch weh? Geht? Bißchen aufpassen im Betrieb. Und die Nina Hagen! Wo die immer so lustig gesungen hat, auch im Westen! Fort ist Mutters Schmuckstück. Hat Frau Müller im HO erzählt. Daß die einfach weg kann? Die ist erst 20! War die populär! Der verrückte Tango mit dem Mango am Wasserfall und die Nachtigall und ich bin er und du bist ich! Wirklich ein schönes Lied! Stimmt, Walter, was du alles weißt, Süßer. Komm, Hilde, leg mal ne kesse Sohle aufs Parkett. Beide tanzen. Das könnte unsere Tochter sein. Die dicken Lippen. Hilde weint: Um die Nina ist es schade. Hildchen! Walter tanzt Solo: Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael, und alles kunterbunt und alles scheißegal! Hilde klatscht. Hilde, die singt dann im Westen, da kannst du sie wieder sehen! Bei Ilja Richter oder Dieter Thomas Heck! Licht aus! Spot an! Da ist er! Der absolute Hauptgewinn. Hilde lacht. Hilde, da kauf ich dir einen Farbfernseher! Walter!
»Es hat in Deutschland nur zwei Genies gegeben: im Westen Fassbinder, im Osten Schleef.«
(Elfriede Jelinek)
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