Sind Sie einmal mit einem Engel auf Reisen gegangen? Der Autor hat sich auf dieses Abenteuer eingelassen, um mit seinem dunklen Gefährten Zeit und Raum zu überwinden, Orient und Okzident zu durchstreifen, eine Reise zu den Küsten und Inseln des Mittelmeers zu wagen, in der sich Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart in ihrem Zauber, aber auch in ihren heutigen Dramen und ihrer modernen Brutalität vermischen. So beginnt eine Erkundung der Erinnerungen, die zu verinnerlichter Erkundung von lange Vergessenem wird, um sich letztlich zu einer Reise ins Innere der Liebe zu wandeln.
Michael Schroeder (geb. 1954 in Trier) studierte Klassische Altertumswissenschaften, Geschichte sowie Kunstgeschichte und war als Forscher in Süditalien, Griechenland und Syrien tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur und Kunst der griechischen und römischen Antike sowie die Kulturen der Schwarzmeerländer und des Nahen Ostens. Er übersetzte u. a. Gedichte von Konstantinos Kavafis (»Gefärbtes Glas«, 2001) und ist Autor der Biografie »Sappho von Lesbos. Europas erste Dichterin« (2008). »Halbmondzeit« ist sein literarisches Debüt.
Im Kafenion bemerkten sie an einem der Tische einen alten Herrn, allein, einen Kaffee vor sich, im zimtbraunen Anzug, mit großer Brille, den Eingang des Lokals beobachtend. Sie gingen zu ihm und baten, sich zu ihm setzen zu dürfen. Mit einer ausholenden Geste seiner Rechten, die etwas affektiert erschien, wies er ihnen Plätze gegenüber zu. Sie bestellten beim Kellnerjungen, der sogleich herbeieilte, ein Viertel harzigen Inselweins. Er brachte das Gewünschte, goss ein. Sie hoben ihre Gläser in Art eines Grußes dem Tischgenossen zu und tranken. Er nickte dankend. Sie betrachteten ihn. Die Augen verborgen, oder vergrößert hinter runden, schwarz umrandeten Brillengläsern. Ein faltiges langgezogenes Gesicht mit einem irgendwie unpassenden, geschwungenen Mund. Er trug einen abgetragenen, einst wohl teuren Anzug mit passender Weste, eine altmodische Seidenkrawatte in wässrigen Farben; der Hemdkragen, von allzu häufigem Stärken und Bügeln glänzend. Seine linke Hand aus zerknittertem Pergament mit den schönen schlanken Fingern ruhte neben der Kaffeetasse auf der schwarz glänzenden Marmorplatte des Tischchens.
Die Sängerin schien den alten Herrn zu kennen.
»Guten Abend, Konstantinos!«, nickte sie ihm zu.
»Guten Abend, bezaubernde Grille!«, sagte der alte Herr.
Die Grille zog eine Packung Santé-Zigaretten hervor, steckte sich eine zwischen die Lippen, der alte Herr entzündete sie, sie nahm einen tiefen Zug. Herr Konstantinos drehte den beiden sein Gesicht zu.
»Sie ist meine Grille! In der Sonne zerreibt sie ihr schrilles Lied unter den Flügeln«, raunte er, lehnte sich dann zurück und begann ein wenig schulmeisterlich auszuholen: »Die alten Griechen glaubten, Klänge entstünden durch die Bewegung der Sterne, und die Sterne bewegten sich in einer Geschwindigkeit, die den Gesetzen des Wohlklangs folge. Wohlklang empfanden und empfinden Menschen
als harmonisch. Harmonía entsteht, wenn der Vertrag mit dem Gehör, in dem Akkorde und Töne ein Zusammenklingen, die symphoníai, bilden, funktioniert, und die Ohren den harmonischen Wohlklang wahrnehmen. Doch können wir ihn nur selten hören: Wohlklang ist nämlich schon bei unserer Geburt vorhanden und nur schwer von der Stille zu unterscheiden.
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