Seit der frühen Renaissance ahmen Dichter in ganz Europa die Sonette Francesco Petrarcas (1304–1374) nach und verfolgen damit ein lyrisches Programm, nach dem das liebende und leidende Individuum durch eigene Erfahrungen das allgemein Menschliche in sich erkennen möge. Alfieris »Petrarkismus« allerdings ist ganz ichbezogen und weist in seiner dramatischen Betonung der eigenen Affekte schon beinahe expressionistische Züge auf. Seine Sonette sind von überschwänglicher Leidenschaft und starkem Ausdrucksbedürfnis geprägt; Eros, Freiheitsdrang und Streben nach dichterischem Ruhm sind seine wesentlichen Anliegen, dem Sturm und Drang ist Alfieri näher als der höfischen Kultur des Cinquecento.
Der hier vorgelegte zweisprachige Band gibt eine repräsentative Auswahl aus Alfieris Sonetten, darunter finden sich politische, satirische, philosophische, autobiografische, dichtungsbezogene und amouröse – letztere ausnahmslos Luise Gräfin zu Stolberg (1746–1824) gewidmet.
Vittorio Alfieri (1749–1803), Sohn eines wohlhabenden Grafen aus Asti, ging mit siebzehn Jahren lieber auf ausgedehnte Reisen durch Europa, als eine militärische Karriere einzuschlagen, und verfasste mit fünfundzwanzig sein erstes Drama: »Antonius und Cleopatra«. Er verzichtete, um ganz unabhängig zu sein, zugunsten seiner Schwester auf sein Erbe, verliebte sich in Luise Gräfin zu Stolberg, die vor ihrem gewalttätigen Gatten geflohen war, und lebte mit ihr in quasi wilder Ehe bis zu seinem Lebensende. Anfänglich ein begeisterter Anhänger der französischen Revolutionäre, zählte er nach dem Sturm auf die Tuilerien zu ihren größten Hassern. Er hinterließ zahlreiche Gedichte, einen Essay über die »Tyrannei«, eine umfangreiche Autobiografie (deutsch unter dem Titel »Vita – Mein Leben«, DVB 2010) und mindestens zweiundzwanzig Tragödien, die auf das italienische Risorgimento großen Einfluss ausübten.
Christoph Ferber (geb. 1954) hat u. a. Lyrik von Gaspara Stampa, Ugo Foscolo, Eugenio Montale, Salvatore Quasimodo und Stéphane Mallarmé übersetzt. Er lebt in Ragusa auf Sizilien.
Georges Güntert (geb. 1938) ist emeritierter Professor für Romanistik an der Universität Zürich.
»Man muss dankbar sein, dass dieser missgelaunte Bruder Casanovas nun wieder da ist« (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, über Alfieris »Vita«)
Sublimer Spiegel, zeige mir die Wahrheit!
Wer bin im Körper ich, wer in der Seele?
Die Haare rot und spärlich in der Stirne,
gesenkten Hauptes, aber hoch und aufrecht;
schlank von Statur, auf festen Beinen stehend,
blauäugig, hell, und angenehmen Anblicks,
mit schönen Lippen, Zähnen, grader Nase,
bleich im Gesicht wie auf dem Thron der König;
bald herb und hart, bald biegsam, mild und gütig,
zumeist erregt und zornig, niemals böse,
im Herzen, im Gemüt mit mir zerstritten,
fast immer gramen Sinns, doch manchmal fröhlich,
bald dem Achilles gleich, bald dem Thersites: —
Ob, Mensch, du groß, ob elend? Stirb und wiss’ es!
© 2024 Elfenbein Verlag
Startseite