Schwob: Das gespaltene Herz
Marcel Schwob:
»Das gespaltene Herz«
Mit Illustrationen von Fernand Siméon
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhang versehen von Gernot Krämer
2. Aufl. 2005, Ln., 263 S.
€ 24 [D] / € 24,70 [A] / sFr 34,70
ISBN 978-3-932245-71-8
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Buch

»Das Buch von Monelle«, »Der Kinderkreuzzug« und die »Imaginären Lebensläufe« sind auch in Deutschland längst bekannte Klassiker der französischen Literatur. Aber schon mit seinem ersten Buch »Das gespaltene Herz«, das 1891 erschien, gelang Marcel Schwob ein großer Wurf. Anders als in den streng komponierten späteren Werken zeigt sich hier die ganze Vielgestalt seines Talents: Märchen, Grotesken, Parabeln, Gespenster- und Abenteuergeschichten, historische Kriminalfälle und Szenen aus der Pariser Halb- und Unterwelt haben darin ihren Platz.
Am 26. Februar 2005 jährte sich zum hundertsten Mal der Todestag Marcel Schwobs. Aus diesem Anlaß erschien »Das geteilte Herz« erstmals in deutscher Übersetzung, ergänzt durch den postum erschienenen Essay »Il libro della mia memoria«. Die mit Holzschnitten von Fernand Siméon illustrierte Ausgabe enthält einen Anhang mit Essays von Fleur Jaeggy und Franz Blei über Marcel Schwob, Tagebuchaufzeichnungen über Schwob von Jules Renard, André Gide, Paul Léautaud und Arnold Bennett sowie ein Nachwort des Übersetzers und Herausgebers.

Autor

Marcel Schwob, 1867 in Chaville bei Paris geboren, gehörte in den 1890er Jahren zu den führenden Vertretern der literarischen Avantgarde Frankreichs. Innerhalb weniger Jahre schrieb er fünf Bände mit Erzählungen, um dann bis zu seinem Tod 1905 als Schriftsteller zu verstummen. Seinem verstorbenen Vorbild Robert Louis Stevenson huldigte er durch eine Reise nach Samoa, mußte aber kurz vor Erreichen des Grabes aufgrund einer eigenen lebensgefährlichen Erkrankung umkehren.
Im Elfenbein Verlag erschien ebenso Marcels Schwobs Erzählband »Der Kinderkreuzzug« in der Übersetzung von Arthur Seiffhart mit einem Nachwort von Gernot Krämer.

Auszug

ARACHNE

Ihr sagt, ich sei verrückt, und habt mich eingesperrt; aber ich lache über eure Vorsichtsmaßnahmen und eure Ängste. Denn ich werde frei sein, wann immer ich will; an einem langen Seidenfaden, den mir Arachne zugeworfen hat, werde ich euren Wächtern und Gittern entkommen. Zwar ist die Stunde noch nicht da – aber sie nähert sich: Mein Herz wird schwächer und schwächer, und mein Blut beginnt zu stocken. Ihr, die ihr mich jetzt für verrückt haltet, werdet mich für tot halten: Ich aber werde an Arachnes Faden über den Sternen balancieren.
Wenn ich verrückt wäre, wüßte ich nicht so genau, was geschehen ist, ich könnte mich nicht so deutlich an das erinnern, was ihr mein Verbrechen nennt, noch an die Plädoyers eurer Anwälte und das Urteil, das euer Richter in der roten Robe sprach. Ich würde nicht lachen über die Gutachten eurer Ärzte und sähe nicht an der Decke meiner Zelle den Glatzkopf, den schwarzen Gehrock und die weiße Krawatte des Idioten, der mich für unzurechnungsfähig erklärt hat. Nein, ich sähe ihn nicht, denn die Verrückten haben keine präzisen Vorstellungen – während ich meine Überlegungen mit einer luziden Logik und außerordentlichen Klarheit durchführe, die mich selbst erstaunen. Und die Verrückten haben Schmerzen unter der Schädeldecke; sie glauben, diese Unglücklichen!, daß wirbelnde Rauchsäulen aus ihrem Hinterkopf steigen. Mein Gehirn aber ist von einer solchen Unbeschwertheit, daß es mir oft scheint, als sei mein Kopf leer. Die Romane, die ich einst gelesen, an denen ich mich erfreut habe, überschaue ich jetzt mit einem einzigen Blick und ermesse ihren Wert; ich erkenne jeden Kompositionsfehler – während die Symmetrie meiner eigenen Erfindungen so vollkommen ist, daß ihr verblüfft wärt, wenn ich sie euch erklären würde.
Aber meine Verachtung für euch ist grenzenlos; ihr könntet sie nicht begreifen. Ich hinterlasse euch diese Zeilen als letztes Zeugnis meines Hohns und damit ihr eure eigene Narrheit erkennen sollt, wenn ihr meine Zelle verwaist finden werdet. Ariane, die bleiche Ariane, bei der ihr mich aufgegriffen habt, war Stickerin. Ich werde euch sagen, wie sie zu Tode gekommen ist. Ich werde euch sagen, wie ich zu meinem Heil kommen werde. Ich liebte sie mit leidenschaftlicher Hingabe; sie war klein, hatte bräunliche Haut und flinke Finger; ihre Küsse waren Nadelstiche, ihre Zärtlichkeiten bebende Stickerei. Und die Stickerinnen sind so leichtlebig und wechselhaft, daß ich sie bald drängte, ihre Arbeit aufzugeben. Aber sie widersetzte sich mir; und ich verzweifelte, wenn ich sah, wie die jungen Gecken mit ihren Krawatten und den pomadisierten Haaren darauf lauerten, daß sie ihr Atelier verließ. Meine Aufregung darüber war so stark, daß ich mich gewaltsam wieder in die Studien zu vertiefen suchte, die mir einst Freude gemacht hatten.
Wie unter Zwang nahm ich den dreizehnten Band der Asiatic Researches zur Hand, der 1820 in Kalkutta erschienen ist. Und mechanisch begann ich einen Artikel über die Phansigar zu lesen. Das brachte mich auf die Thugs.
Kapitän Sleeman hat ausführlich über sie berichtet. Colonel Meadows Taylor ist dem Geheimnis ihres Bundes auf die Spur gekommen. Sie standen auf geheimnisvolle Weise miteinander in Verbindung und arbeiteten als Domestiken in Landhäusern. Abends beim Souper betäubten sie ihre Herren mit einem Hanf-Absud. Nachts kletterten sie die Mauern hoch, schlüpften im Mondlicht durch die offenen Fenster und erwürgten die Bewohner des Hauses. Ihre Stricke waren auch aus Hanf, mit einem großen Knoten am Genick, um noch schneller zu töten.
So verbanden die Thugs Schlaf und Tod durch den Gebrauch des Hanfs. Die Pflanze, aus der das Haschisch hergestellt wurde, mit dem die Reichen sie abstumpften wie mit Opium und Alkohol, diente auch dazu, sich an ihnen zu rächen. Mir kam die Idee, daß ich meine Stickerin Ariane, wenn ich sie mit Seide strafte, im Tod ganz an mich binden würde. Und diese unzweifelhaft logische Idee wurde zum glühenden Mittelpunkt meines Denkens. Ich widerstand ihr nicht lange. Als sie ihren Kopf zum Einschlafen an meine Schulter legte, schlang ich ihr behutsam die seidene Kordel um den Hals, die ich aus ihrem Korb genommen hatte; und als ich sie langsam zuzog, trank ich mit ihrem letzten Atem auch ihren letzten Kuß.
So, Mund an Mund, habt ihr uns erwischt. Ihr habt geglaubt, daß ich verrückt sei, und sie tot. Denn ihr ahnt nicht, daß sie noch immer bei mir ist, auf ewig treu, weil sie die Nymphe Arachne ist. Tag für Tag ist sie mir hier in meiner weißen Zelle erschienen, seit ich eine Spinne entdeckt habe, die über meinem Bett ihr Netz knüpfte: Sie war klein, braun und hatte flinke Finger. […]

© 2005 Elfenbein Verlag

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