Ob er sich jemals so ereignet hat, wie die Chronisten uns berichten – darüber sind die Historiker uneins. Etwa zwei Dutzend verlässliche Quellen allerdings sprechen von verschiedenen Zügen tausender Kinder, Jugendlicher und Erwachsener aus zumeist ärmlichen Verhältnissen, die im Frühjahr 1212 im Rheinland und in Niederlothringen sowie im Raum Chartres waffenlos und unter der Führung von charismatischen Jugendlichen – etwa Stefan von Cloyes und Nikolaus von Köln – nach Jerusalem aufbrachen, »um das heilige Grab von den Sarazenen zu befreien«. Bis ans Mittelmeer gelangten nach einer verlustreichen Überquerung der Alpen allerdings nur wenige Teilnehmer; und wer überlebt hatte, wurde in Pisa oder Marseille als Sklave verkauft. Marcel Schwobs Annäherung an diese Ereignisse ist in der Literatur des Fin de Siècle einzigartig: In einem multiperspektivischen Verfahren kommen acht, sowohl historische als auch fiktionale, Personen monologisch zu Wort: ein Goliard, ein Aussätziger, die Päpste Innozenz III. und Gregor IX., ein gläubiger Muslim sowie die Kinder selbst, die das Geschehen von ihrem jeweiligen Standpunkt aus beschreiben und in philosophisch-theologische Exkurse betten. Auf die Frage, wer die eigentliche Verantwortung für die Katastrophe trägt, finden sich dabei höchst unterschiedliche Antworten.
Marcel Schwob (1867–1905) gehörte in den 1890er Jahren zu den führenden
Vertretern der literarischen Avantgarde Frankreichs. Innerhalb weniger
Jahre schrieb er fünf Bände mit Erzählungen, um dann bis zu seinem Tod als
Schriftsteller
zu verstummen. Seinem verstorbenen Vorbild Robert Louis
Stevenson huldigte er durch eine Reise nach Samoa, musste aber kurz vor
Erreichen des Grabes aufgrund einer eigenen lebensgefährlichen Erkrankung
umkehren.
Im Elfenbein Verlag erschien bereits Marcels Schwobs Erzählband
»Das gespaltene Herz«
in der Übersetzung von Gernot Krämer.
ERZÄHLUNG DES KALANDARS
Ruhm sei Gott! Gelobt sei der Prophet, der mir erlaubt hat, arm zu sein und
den Herrn anrufend durch die Städte zu irren. Dreifach gesegnet seien die
heiligen Begleiter Mohammeds, die den göttlichen Orden errichteten, dem ich
angehöre! Denn ich gleiche ihm, der mit Steinwürfen aus der Stadt gejagt
wurde, die so ehrlos ist, daß ich sie nicht nennen will und der in einen
Weinberg flüchtete, wo ein Christensklave sich seiner erbarmte und ihm
Trauben gab, und als der Tag sich neigte, durch die Worte des Glaubens
bewegt wurde. Gott ist groß! […] Ich sah vor kurzem eine große Schar
Christenkinder, die der Beherrscher der Gläubigen gekauft hat. Ich habe sie
auf der großen Landstraße gesehen. Sie liefen wie eine Herde Hammel. Man
sagt, daß sie von Ägypten kommen und daß die Schiffer der Franken sie
dorthin gebracht haben. Sie waren vom Satan besessen und versuchten, das
Meer zu überqueren, um nach Jerusalem zu kommen. Ruhm sei Gott! Er hat
nicht erlaubt, daß eine so große Grausamkeit vollendet wurde. Denn die
armen Kinder wären unterwegs gestorben, da sie weder Beistand noch
Lebensmittel hatten. Sie sind ganz unschuldig. Und als ich sie sah, habe
ich mich zur Erde geworfen und mit der Stirn auf den Boden geschlagen und
habe den Herrn mit lauter Stimme gelobt. Jetzt will ich erzählen, wie
diese Kinder aussahen. Sie waren weiß gekleidet und trugen Kreuze auf ihre
Kleider genäht. Sie schienen nicht zu wissen, wo sie sich befanden und
schienen nicht traurig zu sein. Ihre Augen sind beständig ins Weite
gerichtet. Ich habe eins von ihnen bemerkt, das blind war und von einem
kleinen Mädchen an der Hand geführt wurde. Viele haben rotes Haar und grüne
Augen. Es sind Franken, die dem Kaiser von Rom gehören. Sie sind irrgläubig
und beten den Propheten Jesus an. Der Irrtum dieser Franken ist offenbar.
Denn erstens ist es durch die Schriften und Wunder bewiesen, daß es kein
Wort gibt außer dem Mohammeds. Weiter erlaubt uns Gott täglich, ihn zu
rühmen und unseren Lebensunterhalt zu suchen, und er befiehlt seinen
Gläubigen, unseren Orden zu beschützen. Auch hat er den Kindern den
Scharfblick versagt, denn sie sind ausgezogen aus einem fernen Lande,
verführt durch Iblis, und er hat sich nicht offenbart, um sie zu warnen.
Und hätten sie nicht das Glück gehabt, in die Hände der Gläubigen zu
fallen, so wären sie von den Feueranbetern gefangen genommen und in tiefe
Keller eingeschlossen worden. Und diese Verfluchten hätten sie ihrem
menschenfressenden, abscheulichen Götzen geopfert. Gelobt sei unser Gott,
der alles wohl tut, was er tut und der selbst die beschützt, die nicht an
ihn glauben. Gott ist groß! Ich werde jetzt meinen Reis im Laden dieses
Goldschmiedes fordern und meine Verachtung des Reichtums verkündigen. Wenn
es Gott gefällt, werden alle diese Kinder durch den Glauben gerettet.
« Cette dernière réédition est d’une grande qualité esthéthique et intellectuelle … très élégamment présentée … »
(A. L., Spicilège)
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