Ralph Roger Glöcklers Reise nach Corvo, ein impressionistisches Gemälde der kleinsten Insel des Archipels der Azoren, schildert die Suche nach dem Mythos des Kommunitarismus, einer geradezu urchristlichen Lebensweise, und dem, was davon übrig blieb. Eine Suche, die im Porträt des Bürgermeisters der Gemeinde von Corvo ihren Höhepunkt findet – versuchte dieser doch nach dem Ende der Utopie im Jahre 1971, den Menschen auf Corvo eine neue, auf den wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten der Insel beruhende Identität zu verschaffen.
Ein möglicherweise gescheitertes, aber einem Künstler würdiges Projekt, das – im Sinne Baudelaires – danach trachtet, eine neue Wirklichkeit aus vorgefundenen Elementen zu schaffen. So spricht das Buch von der Geschichte der Insel, von der Landwirtschaft, von der Beziehung der Bevölkerung zur Natur, zur Gesellschaft und zur »Câmara Municipal«, dem allmächtigen Bürgermeisteramt mit seinen unbequemen, herausfordernden Ideen.
»Corvo. Eine Azoren-Utopie« ist im Jahre 2001 zuerst in portugiesischer Sprache erschienen und bildet zusammen mit den Erzählungen »Madre« und »Vulkanische Reise« Glöcklers Azoren-Trilogie.
Ralph Roger Glöckler (geb. 1950) studierte in Tübingen u. a. Ethnologie. Im Elfenbein Verlag erschien — neben der Azoren-Trilogie — bereits der Gedichtband »Das Gesicht ablegen« (2001) sowie die Romane »Mr. Ives und die Vettern vierten Grades« (2012) und »Tamar« (2014).
Morgenrot überschüttet das Dorf mit changierenden Farben, die sich vom weißen Silber des Meeres abheben. Wolken hängen in strenger Linie über dem Wasser, werden später, so will es scheinen, die Nacht wegregnen. Noch ist alles still, vollkommen unwirklich. Wo bin ich? Corvo: eine Halluzination? Es könnte ja sein, dass ich noch nicht richtig erwacht bin und dieses abstrakte Gemälde vor mich hindöse. Dann öffne ich das Fenster, atme die kühle, würzige Luft des Atlantiks. Der Mythos leuchtet in den Farben der Dämmerung. Sein Zauberstab hat Corvo berührt und in jenen verheißungsvollen Ort verwandelt, an dem sich, wie es heißt, urgemeinschaftliches Leben erhalten habe. Ein Containerschiff fährt durch den farbenprächtigen Morgen, bewegt sich langsam an der Insel Flores vorbei, durchkreuzt den Traum einer Gemeinde religiös inspirierter Menschen, lässt an die Besiedlung der beiden westlichen Azoreninseln denken und an die Umstände, die zwangsläufig zur Herausbildung gewisser Formen des Zusammenlebens führten. Es ist irreführend, wenn von der „Urgemeinde“ auf Corvo gesprochen wird, weil es etwas Falsches suggeriert. Das Containerschiff verwandelt sich plötzlich in die schmächtige, gegen die Strömungen im Kanal ankämpfende Karavelle, auf der Diogo de Teive in der zweiten Hälfte des Jahres 1452 die Inseln entdeckte. Er soll sich auf einer Forschungsreise nach Westen befunden haben, die ihn, wie Jaime Cortesão meint, bis nach Neufundland führte. Was für ein faszinierender Gedanke, dass ihm der Reiter auf der Ponta do Marco die Richtung gewiesen haben könnte. Wirklich, eine poetische Idee. Leider gibt es keine archäologischen Funde, die sie rechtfertigen würden.
© 2005 Elfenbein Verlag
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