Ralph Roger Glöcklers Erzählung beruht auf den überlieferten, durch die Kirche zensierten und bisher unveröffentlichten Notizen der Nonne Teresa da Anunciada (1658–1738), die im Kloster „Nossa Senhora da Esperança“ in Ponta Delgada auf der Azoreninsel São Miguel lebte und den Kult um die Büste des „Senhor Santo Cristo“ begründete. Seit drei Jahrhunderten wird dort ein Fest begangen, das viele Emigranten aus aller Welt heimkehren lässt und zum größten religiösen Ereignis auf dem Archipel der Azoren geworden ist. In den Notizen scheint die Besessenheit der Nonne auf, die Figur des „Senhor Santo Cristo“ für sich und andere zum Leben zu erwecken und zu instrumentalisieren – verfasst in der Form eines Bewusstseinsstroms ihrer letzten Lebensstunden, eines Todes-Deliriums, in dem sich Erinnerungsbilder entfalten und Wahrnehmungsebenen verschieben: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlaufen hier parallel. Teresa da Anunciada wird vor ihrem endgültigen Hinweggleiten in die Zukunft, in die heutige Zeit, versetzt, um den Kult, den sie selbst geschaffen hat, nicht mehr wiederzuerkennen und ihn als Götzendienst zu erfahren … »Madre« bildet zusammen mit den Erzählungen »Corvo« und »Vulkanische Reise« Glöcklers Azoren-Trilogie.
Ralph Roger Glöckler (geb. 1950) studierte in Tübingen u. a. Ethnologie. Im Elfenbein Verlag erschien — neben der Azoren-Trilogie — bereits der Gedichtband »Das Gesicht ablegen« (2001) sowie die Romane »Mr. Ives und die Vettern vierten Grades« (2012) und »Tamar« (2014).
… sitzen zu Tisch, Onkel Estácio, da sitzen ja alle zu Tisch, Mutter, meine Schwestern Maria, Ana, Isabel, die sich verstohlen ansehen, als ob ich es nicht bemerkte, die gute Joana, meine Brüder Brás, nüchtern, streng, verheiratet, Vater meiner Nichten und Neffen und Simão, Franziskaner, zurückgekehrt aus der brasilianischen Mission, der mich, wenn ich nicht müde bin, Lesen und Schreiben lehrt, wenig nur, aber doch so viel, um Birgittas Visionen zu lesen, ja, sie drehen sich zu mir um, Becher und Löffel in den Händen, halten beim Kauen inne, als fragten sie, warum ich noch immer hier läge, da geselle ich mich zu ihnen, bin wieder die letzte, dreizehnte, blicke den fremden, noch nie zuvor gesehenen Gast an, um den sie sich scharen, Frei Pedro de São Francisco, Kapuziner, kahlköpfig, weder jung noch alt, mit den bleichen, kantigen Zügen des Märtyrers, müden, freundlich dunklen Augen, geschwungenen Lippen, die, das verstehe ich, Liebster, Deinen Leib inniglich küssen, wenn er alleine ist, erkenne, ohne es zu sehen, das Dornenkreuz unter der Kutte, warte darauf, was mir der Mönch wohl erwidern werde, mir, dem, wie Maria, Ana, Isabel denken, eigensinnigen, naseweisen, Samariterin spielenden Kind, verfolge seinen Blick, der über mein Gesicht wandert, am Kinn haften bleibt, als erkenne er dort etwas, ohne es sofort benennen zu wollen, sehe sein kurzes, sofort verlöschendes Lächeln, taste erschreckt nach dem kräftigen Mal, das ich verabscheue, obwohl, so Mutter, nur die Schönheit des Geistes zähle, die des Körpers verrotte, bedecke es mit der Hand, ich, sagt er ernst, sieht mich fest an, trage nicht nur den Namen der Heiligen Teresa von Àvila, Mutter und Meisterin, sondern auch, was nur wenige wissen, ihr Mal, ihre bescheidene, nur auserlesenen Seelen würdige Insignie, ich, Teresa, fährt der Gast nach einer Weile fort, müsse ein großes Vermächtnis erfüllen, sei, wenn er sich nicht irre, nein, er irre sich nicht, zur Novizin, Nonne, Äbtissin berufen, ich, Teresa, lasse die Hand sinken, starre den Ordensbruder an, ohne sein Gesicht zu sehen, sehe gar nichts mehr, weiß nicht, was ich denken, sagen soll, schrecke plötzlich zurück, sehe die Mutter an, Joana, die Brüder, die anderen, spitzmündig vor sich niederblickenden Schwestern, sei, so werden sie denken, ein selbstsüchtiges, diesen Fremden bezirzendes Kind, weiß wirklich nicht, was ich bin, was ich sagen, denken soll, auch Joana, die meine Hand nimmt, weiß es nicht, doch, ich, Teresa, weiß es genau, will, nein, muss Nonne werden, so, wie der Ordensbruder es sagte, werde … Brás zieht die Augenbrauen hoch, wird plötzlich rot, Hals und Gesicht schwellen an, werde von beseligender, die Schläfenadern stehen hervor, haut mit der Faust empört auf den Tisch, werde von beseligender Gewissheit erfüllt, dreht sich zu mir, dann zur Mutter um, hält bemüht inne, etwas so leise, so höflich wie möglich, doch ganz entschieden zu sagen, ich aber höre nicht mehr hin …
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