Herbst:Buenos Aires
Alban Nikolai Herbst:
»Buenos Aires. Anderswelt«
Kybernetischer Roman
2001, 2. Aufl. 2016, geb., 272 S.
€ 19 [D] / € 19,60 [A] / sFr 27,50
ISBN 978-3-941184-23-7
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Buch

Orientierungslos steht Hans Erich Deters in der imaginierten Megastadt »Buenos Aires« in einem panischen Szenario aus Polizei- und Krankenwagen, durcheinanderrennenden Sanitätern, schaulustigen Nachtschwärmern und eigenen Phantasmen. An einem schönen Junitag war er in Berlin losspaziert und ist über Nacht am 1. November angekommen, neun Jahre später zumal. Eine Frau spricht ihn an, er geht mit ihr, geht wieder fort, geht mit einer anderen weiter. Sein Zuhause gibt es nicht mehr, und er wird mit einer Lebensgeschichte konfrontiert, die seine ist und doch auch wieder nicht: Er ist verheiratet, wohnt nicht dort, wo er zu wohnen glaubt, er ist jemand anders. Seine Erinnerungen verschieben sich allmählich in die eines neuen, umprogrammierten Deters, doch ohne dass sich die alten löschen ließen. Und der 1. November vergeht nicht: Heute war der 1. November, gestern war der 1. November, und morgen wird abermals nicht ein, sondern derselbe 1. November sein. Also macht er sich endlich auf die Suche nach der verlorenen Dunckerstraße in Berlin, zurück in die Realität. Gibt es sie aber? Ist nicht sie selbst nur Phantasie? Und ist nicht alles Geschehen möglicherweise Teil eines großen kybernetischen Experiments?

»Buenos Aires. Anderswelt« ist der zweite Teil einer Trilogie, die Alban Nikolai Herbst 1998 mit dem ›Fantastischen Roman‹ »Thetis. Anderswelt« eröffnete und 2013 mit dem ›Epischen Roman‹ »Argo. Anderswelt« abschloss.

Autor

Alban Nikolai Herbst (geb. 1955) studierte Philosophie und Geschichte und arbeitete zeitweilig als Devisenbroker. Die literarische Bühne betrat er bereits als 26-Jähriger. Seit dem Erscheinen des Romans »Wolpertinger oder Das Blau« (1993) zählt er zu den wichtigsten deutschsprachigen Vertretern der postmodernen Literatur und wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen (u. a. Grimmelshausen-Preis) geehrt. 1998 erschien mit »Thetis« der erste Teil seiner sprachlich und kompositorisch außergewöhnlichen »Anderswelt«-Romantrilogie, die mit »Buenos Aires« 2001 ihre Fortsetzung fand und mit »Argo« abgeschlossen wird. Im Elfenbein Verlag erschien zudem »Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen« (2003) sowie der Gedichtband »Das bleibende Thier. Bamberger Elegien« (2011).

Auszug

Unsere Wohnung lag fünfzehn Etagen über einer lang gestreckten, erstaunlich quirligen, vor allem lärmigen und hitzegeschundenen Straße; wahrscheinlich war der Laserzaun nicht fern. Im Innern der Zentralstadt wäre solch Chaos undenkbar gewesen. Vielleicht hundert Meter von hier gab es eine verkehrsumbrauste Kreuzung, seltsam, dass nirgends Gleiter zu sehen waren, bloß alte verblechte Karosserien Goods Carrier und sogar Kulis, die dreimeterlange Karren zogen. Den Bordstein säumten am Boden sitzende Händler, Gemüse darbietend, billige Klamotten, Zeitungen. Stadt der Tentakeln Geschichten Gesichter Des Todes Der Liebe Der Anmut Des Drecks. Es ras­ten die Informationen. 430 Quadratkilometer Müll und Gotik, verfaulende Gliedmaßen und Teakholzfurniere, die über ganze Wände reichen … Mein Bombay mein Glück meine Nächte Auf den Plafonds ohne Wasser nachts in den Gängen der Mietskasernen. Yellama, Yellama!: In Käfigen hängen die Thetistierchen an den Wänden Kamatipuras. Ich kannte diese sattwarme, sinnliche, tropische Aussicht. Ganz woanders war ich schon einmal hier gewesen. Was ich jetzt sah hingegen, war Projektion. Wie vor einigen Jahrzehnten lebende Tapeten modern geworden, waren Scheinfenster eingeführt. Innerhalb der Arkologien ließ es sich ja eigentlich nie nach draußen, sondern immer nur in andere Innenarchitekturen, schlimmstenfalls gegen Wände, bestenfalls in Gänge Fahrröhren Energiekanäle blicken. Nur die so genannten Randwohner sahen ins so genannte Freie und die wollten nichts sehen, verständlicherweise; was ist verlockend am Brachenblick? Ach, er lockte zu sehr! Die Freiheit war furchtbar, doch zog uns alle der Schrecken an: Deshalb dichtete sich, wer das Unglück hatte, an Schnittstellen siedeln zu müssen, so gut es immer ging davon ab. Ganz zu Anfang des zentraleuropäischen WiederAufbaus waren Fensterstürze Mode geworden; die meisten Sensiblen waren, um eine alte Freiheit zu spüren, an langen federnden Gummiseilen gesprungen. Doch Verlockungen wachsen: viele sprangen dann frei. So dass das Bauordnungsamt durchgreifen musste und statt der bevölkerungspolitisch prekären konventionellen Fenster den Einbau glasdünner Bildschirme vorschrieb. Ich wusste noch, welche Widerstände es zu Beginn der so genannten Fensterreform gegeben hatte; es war zu teils sogar gewalttätigen Demonstrationen gekommen. Als die Aufregung aber verebbt war, wurden die unbezweifelbaren Vorteile der neuen Aussichten eingesehen: sie ließen sich nämlich programmieren, so dass die Mieter und LoftEigentümer plötzlich am Meer leben konnten oder, je nach Neigung, in den Bergen, ja auf anderen Planeten oder direkt am Fuß eines gebändigten Vulkans inmitten von Orangenkupfer. In Kürze boomte der Markt. Manche Leute sahen nun nach vorne auf Unter den Linden von 1900, vorm Küchenfenster schwebten die vier Galiläischen Monde, aus dem Schlafzimmer blickte man über Sorrento nach Capri und die Toilettenluke erlaubte Meditationen 200 Meter über dem Kandelaber der Anden. Mein Freund Eisenhauer hatte sich direkt über einem Zubringerknoten eingemietet; er hing an der Vorstellung einstiger Urbanität und hatte die von seinem Landlord gepriesene Klausur dieser Kreuzberger Seitenhauswohnung keine zwei Wochen ausgehalten. Seine Fens­ter gingen nun auf drei Gleiterebenen, die von einer Hochbahn diagonal geschnitten wurden, und es gab nahbei – ungewöhnlich für den Bezirk – eine Müllverbrennungsanlage. Eisenhauer hatten vor allem Gerüche gefehlt, so dass er auch diesbezügliche Konsequenzen gezogen und zu den rein optischen Infrastruktursensationen ein Programm erworben hatte, das, klappte er die in ein dünnes Fensterkreuz gerahmten Scheiben zur Seite, aus Düsen in der unteren Abschlussleiste schadstoffbereinigte Emissionsdüfte hereinwehen ließ. Freilich zogen weniger exzentrische Charaktere als er auch heute noch botanische Lockstoffe vor.

Pressestimmen

»Das letzte Radikalgenie? … Herbst hat sich mit seinen sinnlich-magischen Großepen der enthemmten Phantastik Zeile für Zeile aus der etablierten Literaturszene herausgeschrieben … Lies mich, ruft der alle Mythen verschaltende Großorganismus Internet, wie es die Texte Herbsts immer schon gerufen haben. Wir werden daran zugrunde gehen, aber wir können nicht anders.«
(Oliver Jungen, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

»Die Anderswelt-Trilogie und ›Argo‹ im Besonderen sind getragen von dem ehrgeizigen Anspruch, das unvollendete Projekt der Moderne und Postmoderne zu Ende zu bringen … Mit der Anderswelt ist ein fiktionaler Kosmos entstanden, in dem es keine Unterscheidung zwischen digitaler und realer Welt, zwischen Mensch und Maschine mehr gibt … Mit dem ›Deutschen Buchpreis‹ kann ein solches Werk nicht rechnen. Den Leser, der sich mit Herbst mutig in diese ›Achterbahnfahrt der Imagination‹ stürzt, wie es im Roman einmal heißt, erwartet ein Leseabenteuer, wie es keines der vergleichsweise gemütlich auf den Schienen des Realismus gondelnden Bücher der Shortlist zu bieten hat.«
(Christoph Jürgensen, Volltext)

»Ein monumentaler Berlin-Roman, Science-Fiction, Parabel und kritischer Blick auf unsere Gesellschaft zugleich.«
(rbr, mare)

»Ein Autor, der sich für die Form ›Roman‹ noch einmal derart riskant in die Brust wirft, ist nicht zu beneiden – am Ende der Irrfahrt, wenn der dritte Band vollendet sein wird, aber vielleicht zu bewundern.«
(Dietmar Dath, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

»Dieses ehrgeizige Vorhaben steht unter den epischen Unternehmungen der Gegenwart ziemlich einzigartig auf weiter Flur.« (Katharina Döbler, Die Zeit)

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