Shanghai 1909: Der Opiumhandel blüht und mit ihm das Treiben der Unterwelt. Die Stadt ist ein Sammelbecken für Betrüger, Schurken und Draufgänger aus der ganzen Welt. Der junge Ire Seamus O’Nolan hat es – dank einer Handvoll gestohlener Empfehlungsschreiben und durch Protektion seines Onkels – zu einem angesehenen Polizeioffizier gebracht. Doch führt er ein Leben in zwei Welten: Am Tage verkehrt er in den vornehmen Kreisen der Taipans und Hongs. Nachts macht er Geschäfte mit illegalem Glücksspiel und Erpressung. O’Nolan freundet sich mit dem deutschen Offizier Roon an, der anlässlich des »International Walking Contest« – dem gesellschaftlichen Ereignis des Jahres – mit seinem Flugzeug zur Schau über Shanghai fliegen soll. Er zieht Roon immer mehr in seine korrupten Machenschaften hinein. Als Roon eines Tages die wahre Identität O’Nolans aufdeckt, schmiedet dieser einen teuflischen Plan, um ihn loszuwerden …
»Roons letzter Flug« ist eine Hommage an die amerikanischen Kriminalromane der dreißiger und vierziger Jahre. Rainer Kloubert wirft hier einen unverstellten Blick auf die Club-Gesellschaften der Europäer in Shanghai am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Durch seinen sarkastischen Tonfall und die verdichtete Handlung erinnert »Roons letzter Flug« an die Romane Raymond Chandlers.
Rainer Kloubert (geb. 1944 in Aachen) studierte in Freiburg, Tübingen, Hongkong und Taiwan Sinologie und Rechtswissenschaften. Er war u. a. Sprachlehrer an der Militärakademie in Taiwan, Dolmetscher bei einem chinesischen Wanderzirkus und Anwalt in Taipeh. Er lebt in Peking und London.
Im Elfenbein Verlag erschienen bereits:
»Selbstmord ohne Hut« (1998)
»Mandschurische Fluchten« (2000)
»Der Quereinsteiger« (2003)
»Kernbeißer und Kreuzschnäbel« (2007)
»Angestellte« (2008)
»Peitaiho« (2012)
»Yuanmingyuan« (2013)
»Peking« (2016)
Mit seinen aufgeworfenen Lippen, seinen weichen Zügen und welligen Haaren, die in der Mitte gescheitelt waren, glich der Graf auf verblüffende Weise jenem Porträt Oscar Wildes, das um die Welt gegangen war – hätte nicht ein Schmiss in seinem Gesicht einen Strich durch die Rechnung gemacht, von den riesigen Ohren ganz zu schweigen, die aufgeklappt weit nach vorne standen, als hörte er nur, was er gleichzeitig sah. Hinter dem Scheitel brach der Kopf steil und flach nach unten hin ab und ging dann in einen Stiernacken über.
Wie der Richter hatte der Graf einen Stammplatz in einer Runde, zu der nicht jeder Zutritt bekam: in dem dröhnenden Wohlbehagen des deutschen Klubs Concordia, wo es die Kost seiner Heimat gab, welche der Graf, ein großer Esser, auch in Shanghai nicht missen wollte (Sauerkraut, Eisbein und dicke Suppen, Schweinebraten mit Semmelknödeln und was sonst deftig und sättigend war), dazu, »ja, bitte!«, ein Bier vom Fass, das kühl und schaumig aus Tsingtao kam, gebraut nach deutschem Reinheitsgebot. »Ihr Wohl«, hieß es dort und: »Ziehe mit!« anstelle von »Cheers« und »Mud in your eyes«.
Der Graf war in China ein Heißsporn geblieben. Während des Boxeraufstands in Peking, wohin er als junger Gesandtschaftsrat von Tokio aus versetzt worden war, hatte er von den Wällen aus mit seiner Flinte Chinesen »erlegt«. Ein Spaß, von dem er in seiner Runde immer noch oft und gerne erzählte – zur Musik von Blaskapellen, die im Concordia Gastspiele gaben, wann immer ein deutsches Kriegsschiff aufkreuzte und im Hafen vor Anker ging, um in China »Flagge zu zeigen«: »Reste weg«, hieß dann das Kommando. »Kein Pardon für die gelbe Brühe!« Nach dem Aufstand hatte er seinen Dienst quittiert und war ins Bankfach übergewechselt: Die Deutsch-Ostasiatische Bank hatte große Pläne für China. Seine Frau Hildegunde, mit den Frankfurter Rothschilds verwandt, hatte ihm die Wege geebnet, ebenso ein Schwager, der zum Hof in Potsdam gehörte.
Sein Blick fiel auf das Geschwader im Hafen. Deutschland zu Lande und zu Wasser – und auf einmal auch in der Luft. Ein Deutscher würde in ein paar Tagen den ersten Flug über Shanghai wagen! Vor dem Fenster des Sitzungszimmers knatterte im Nachmittagswind drohend die schwarz-weiß-rote Flagge. Der Graf nahm innerlich Haltung an. An der Wand hing ein Bild des Kaisers, die Augen kühn in die Weite gerichtet.
»Aber natürlich, mit Vergnügen.« Goldring, der darunter saß, nickte und verzog sein Gesicht. »Schon der Völkerverbundenheit wegen.« Er meinte seine Bereitwilligkeit, sich zum Vorsitzenden wählen zu lassen. Die Zuhörer schmunzelten in sich hinein. »One touch of sport makes the whole world kin«, fuhr er fort und verzog keine Miene. »Ein bisschen Sport, mehr braucht es nicht, und jeder ist des anderen Nächster.« Wieder Gelächter in der Runde.
Der Graf öffnete seinen Mund:
»Oder setzt ihm den Fuß in den Nacken.«
Das Lachen erstarb mit einem Mal und machte verlegenem Schweigen Platz.
© 2009 Elfenbein Verlag
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