Der wohl schönste Badeort Chinas, Peitaiho (Beidaihe), liegt, etwa drei Stunden Autofahrt
von Peking entfernt, am Gelben Meer in idyllischer Lage am Fuße des Lotosberges. Hier,
wo für über 300 Vogelarten, die im Frühjahr und Herbst das Land durchziehen, ein Rastort
liegt, wurde chinesische und europäische Geschichte gleichermaßen geschrieben: Der Erbauer
der Großen Mauer und Begründer des Kaiserreichs, Qin Shihuangdi (Ying Zheng), fiel hier
im dritten Jahrhundert v. Chr. auf die Knie, um das ewige Leben zu erbitten. Peitaiho wurde
zum Schauplatz von großen politischen Entscheidungen,
von Machtkämpfen, Putschen
und Intrigen, von christlicher Mission, bedeutenden Geschäften und Liebesgeschichten.
Der Erzähler dieses weit gefassten Panoramas taucht in die Geschichte und die Geschichten
dieses schillernden Ortes, seiner Bauwerke und früheren Bewohner ein und nimmt den Leser
mit auf eine Reise in die Zeit der Jahrhundertwende, als Europäer und Amerikaner im Fernen
Osten Fuß zu fassen versuchten, um vom Kohleabbau und anderen Geschäften zu profitieren,
und dabei auch diesen mythischen Ort des alten China in Besitz nahmen.
Rainer Kloubert (geb. 1944 in Aachen) studierte in Freiburg, Tübingen, Hongkong und Taiwan
Rechtswissenschaften. Er war u. a. Sprachlehrer an der Militärakademie in Taiwan, Dolmetscher bei einem
chinesischen Wanderzirkus und Anwalt in Taipeh. Er lebt in Peking und London. Bereits erschienen:
»Selbstmord ohne Hut« (1998)
»Mandschurische Fluchten« (2000)
»Der Quereinsteiger« (2003)
»Kernbeißer und Kreuzschnäbel« (2007)
»Angestellte« (2008)
»Roons letzter Flug«(2009)
»Yuanmingyuan«(2013)
»Peking«(2016)
Die alten Häuser Peitaihos fesselten mich vom ersten Augenblick an. Sie waren nicht nach innen gerichtet
wie die chinesischen mit ihren hohen Mauern und den dahinter liegenden Höfen, sondern nach außen
gewandt wie in Europa: mit Gesicht. Ich kam mir vor wie in einem vom Krieg verschonten Flecken am
Bodensee. Häuser in erstklassiger Lage, eine zurückhaltende und selbstsichere Vornehmheit ging von ihnen
aus. Villen von Geschäftsleuten, Fabrikanten, Beamten, behäbig, gediegen und solide, mit vorspringenden
Dächern, Dreiecksgiebeln, Rundfenstern, Rundbögen, Fensterläden und Fundamenten aus Granit. […]
Jede Villa hatte einen Garten, keine versperrte die Sicht des Nachbarn, alles war wohlgeordnet, als sei hier
deutsches Bau- und Nachbarrecht in Kraft gewesen. Hin und wieder stand ich vor einem chinesischen
Pavillon, aber auch er sah eigentlich wie eine Chinoiserie aus. Ein exotisches Dekorationsstück wie der
chinesische Turm im Englischen Garten von München. […]
Der Ort war bei meinem ersten Besuch noch so unberührt gewesen, wie ihn die neuen Machthaber 1949
vorgefunden hatten. Ein Ort, der in den Jahrzehnten davor eine Mischung aus Capri am Mittelmeer, Biarritz
am Atlantik und Sochi am Schwarzen Meer gewesen war. Geschichten des italienischen Diplomaten und
Schriftstellers Daniele Varè spielten dort: »Das Tor der glücklichen Sperlinge«, »Der Schneider himmlischer
Hosen«, »Der Tempel der kostbaren Weisheit« – die ersten Rororo-Bändchen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Aber der Ort hieß nun anders: »Beidaihe«. Die Buchstaben »P«, »t« und »o«, die ihm vorher Halt und Tiefe
gegeben hatten, waren verschwunden, an ihre Stelle waren »B«, »d« und »e« getreten: charakterlose Laute
ohne Rückgrat. Namen haben etwas Magisches an sich, sie verkörpern die Seele. Eine andere Welt, eine
untergegangene Welt. Hatte es überhaupt einmal ein Peitaiho gegeben – oder existierte er nur in der
Einbildung von Varè? Als Diplomat beim Völkerbund hatte er, um der italienischen Delegation mehr Sitzplätze
zu verschaffen, einmal sogar ein ganzes Land erfunden: Zembla, später Schauplatz von Nabokovs
Roman »Pale Fire«.
Aber Peitaiho war kein Zembla gewesen, es hatte tatsächlich existiert: ein Ort schändlicher Verrate, verunglückter
Putsche, herzergreifender Melodramen, romantischer Liebesgeschichten und politischer Intrigen.
Warlords, Abenteurer, Politiker, Plutokraten, Missionare, Weltverbesserer, Diplomaten, Oligarchen, Industriemagnaten,
Gangster, Geschäftsleute, Militärberater, Seezolldirektoren, Waffenschieber, japanische Spione
und Mata Haris hatten sich hier die Ehre gegeben – Peking-Oper und Dramma per musica auf ein und
derselben Bühne. Ein Ort, wo es überall nach Opium roch, das auf riesigen Feldern in der Nähe angebaut
wurde. Ein prachtvolles Bild, wenn die wogenden Pflanzen in Blüte standen. Peitaiho, ein Ort wie geschaffen
für Träumer, Glücksjäger und Lotosesser. Nicht nur für sie. Zugvögel aus ganz Nordasien sammelten sich
hier vor ihrem Weiterflug. […]
»Nach einem Sinologen mit besserer Kenntnis von Land und Sprache wird man lange suchen müssen: Rainer Klouberts Bücher über das nordchinesische Seebad Peitaiho und den Garten des Alten Sommerpalasts in Peking sind Pioniertat und Lesegenuss.«
(Jürgen Osterhammel, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
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